Frevelopfer
Kinder gehen von zu Hause weg und werden langsam, aber sicher zu Fremden, es sei denn …«
Das Papiertuch in Kristjanas Händen bestand nur noch aus Fetzen.
»Man muss Durchhaltevermögen haben«, sagte sie. »Das habe ich schon in meiner Jugend gelernt. Man darf sich nicht selbst bemitleiden. Ich werde wohl auch das durchstehen, genau wie alles andere.«
Elínborg dachte an das Rohypnol. Wenn so etwas in der Tasche eines jungen Mannes gefunden wurde, der abends ausgegangen und mit einer Frau nach Hause gekommen war, lag wohl auf der Hand, was sich abgespielt hatte.
»Als er noch hier im Dorf gelebt hat«, tastete sie sich vorsichtig vor, »hat er da etwas mit Mädchen gehabt?«
»Darüber weiß ich nichts«, erklärte Kristjana. »Weshalb fragst du danach? Mädchen? Ich weiß nichts über Mädchen. Wieso fragst du mich das?«
»Könntest du mir Leute hier im Ort nennen, die ihn gekannt haben und mit denen ich mich unterhalten kann?«, entgegnete Elínborg ruhig.
»Antworte mir! Weshalb fragst du nach irgendwelchen Frauen in seinem Leben?«
»Wir wissen nichts über ihn. Aber …«
»Ja?«
»Es könnte sein, dass er im Hinblick auf Frauen etwas ungewöhnlich vorgegangen ist«, sagte Elínborg.
»Ungewöhnlich vorgegangen ist?«
»Ja, vielleicht sogar mithilfe von irgendwelchen Medikamenten.«
»Wie meinst du das? Was für Medikamente?«
»Man nennt sie auch Vergewaltigungsdrogen«, sagte Elínborg.
Kristjana starrte sie an.
»Es kann sein, dass er solche Mittel nur unter die Leute gebracht hat, aber wir schließen auch die andere Möglichkeit nicht aus. Doch da können wir uns natürlich irren. Im Augenblick wissen wir noch nicht viel. Wir wissen nicht, weshalb er dieses Mittel in der Tasche hatte.«
»Eine Vergewaltigungsdroge?«
»Das Mittel heißt Rohypnol. Es setzt die Wahrnehmungsfähigkeit herab, betäubt und verursacht Gedächtnislücken. Wir hielten es für richtig, dass du davon erfährst, denn so etwas kann an die Presse gelangen.«
Draußen ging ein heftiger Schneeschauer nieder, und dank des dichten Schneetreibens konnte man beim Blick aus dem Fenster nichts mehr erkennen. Im Wohnzimmer wurde es noch dämmriger. Kristjana saß lange Zeit schweigend da.
»Ich weiß nicht, weshalb er so etwas mit sich herumgetragen hat«, sagte sie schließlich.
»Nein, natürlich nicht.«
»Es bleibt einem wohl nichts erspart.«
»Ich weiß, dass es sehr schwierig für dich sein muss.«
»Ich weiß kaum, was schlimmer ist.«
»Was?«
Kristjana blickte hinaus in das Schneetreiben.
»Dass er ermordet wurde oder dass er Frauen vergewaltigt hat.«
»Wir wissen das noch gar nicht sicher«, korrigierte Elínborg.
Kristjana sah sie an.
»Nein, ihr wisst ja nie etwas.«
Sechs
Elínborg musste im Dorf übernachten. Sie verstaute ihre Sachen in dem geräumigen Zimmer einer kleinen Pension, die sich auf einer Anhöhe etwas außerhalb des Dorfes befand, und telefonierte mit Sigurður Óli, um ihn über das Gespräch mit Kristjana zu informieren, das nicht viel gebracht hatte. Anschließend rief sie zu Hause an. Teddi hatte zum Abendessen Grillhähnchen in einem Schnellrestaurant geholt. Theodóra musste ihr unbedingt alles über das bevorstehende Pfadfinderlager erzählen, das in einem halben Monat am Úlfljótsvatn stattfinden sollte. Sie unterhielten sich eine ganze Weile miteinander. Die Jungen waren nicht zu Hause, sie waren ins Kino gegangen. Elínborg ging davon aus, dass sie bald etwas darüber im Internet lesen würde.
In der Nähe der Pension gab es ein Lokal, das alles zugleich war: Kneipe, Restaurant, Sportbar, Videoverleih und Wäscherei. Als sie eintrat, sah sie einen Mann, der der Frau hinter dem Tresen seine Wäsche reichte und fragte, ob er sie am Donnerstag abholen könnte. Auf der Speisekarte stand alles, was man an einem solchen Ort erwarten konnte, Sandwiches, Hamburger, Pommes frites und Cocktailsoße, Lammbraten und frittierter Fisch. Elínborg setzte auf den Fisch. Zwei weitere Tische waren besetzt. An dem einen schlürften drei Männer ihr Bier und sahen sich auf dem Großbildschirm an der Wand ein Fußballspiel an. An dem anderen Tisch saß ein älteres Ehepaar, das wie sie auf der Durchreise war. Die beiden aßen den frittierten Fisch.
Sie vermisste Theodóra, sie hatte sie zwei Tage nicht gesehen. Elínborg musste unwillkürlich lächeln, als sie an ihre Tochter dachte, die manchmal überraschende Weisheiten über die Welt und das Leben von sich geben konnte. Sie drückte
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