Frevelopfer
sich immer sehr ungewöhnlich aus und wirkte dadurch altklug. Elínborg machte sich manchmal Gedanken, weil die Kinder in der Schule sie damit aufzogen, aber diese Sorgen schienen überflüssig zu sein. »Warum ist der so miesepetrig?«, fragte sie angesichts eines teilnahmslos dreinblickenden Nachrichtensprechers im Fernsehen. »Das ist drollig«, sagte sie, wenn sie etwas Witziges in der Zeitung las. Elínborg war überzeugt, dass sie diese Ausdrucksweise aus Büchern hatte.
Der Fisch war nicht schlecht, und das frisch gebackene Brot dazu war hervorragend. Elínborg ließ die Pommes frites links liegen. Sie hatte sich noch nie dafür erwärmen können. Nach dem Essen erkundigte sie sich, ob sie einen Espresso bekommen könne. Die Wirtin, eine Frau unbestimmbaren Alters, die für die Küche zuständig war, das Brot backte, Kassetten verlieh und Wäsche wusch, zauberte in Windeseile einen exzellenten Espresso herbei, den Elínborg genoss. Dabei kreisten ihre Gedanken um Tandoori-Töpfe und die Gewürze für Tandoori-Gerichte. Die Tür zum Lokal öffnete sich, jemand kam herein und ging zu den Regalen mit den dvd s und Videos.
Elínborg zerbrach sich den Kopf über das Tuch mit dem Tandoori-Geruch, das man in der Wohnung von Runólfur gefunden hatte. Es war kein Beweis dafür, dass eine Frau bei ihm gewesen war, als er überfallen wurde, oder dass eine Frau ihn ermordet hatte. Das Tuch konnte genauso gut auch schon einige Tage unter dem Bett gelegen haben. Trotzdem lag die Vermutung nahe, dass Runólfur an diesem Abend Gebrauch von dem Rohypnol gemacht hatte, dass eine Frau mit zu ihm nach Hause gegangen war, ob aus eigenem Antrieb oder nicht, und dass irgendetwas zwischen ihnen vorgefallen war, was den Anlass zu dieser brutalen Attacke gegeben hatte. Die Wirkung der Droge hatte nachgelassen, die Frau war wieder zu sich gekommen und hatte zur nächstbesten Waffe gegriffen. Die Tatwaffe, das Messer, hatte man nicht in der Wohnung gefunden, und der Täter hatte keine anderen Anhaltspunkte hinterlassen als die offensichtlichen – Wut und abgrundtiefer Hass auf das Opfer.
Falls Runólfur die Besitzerin des Tuchs vergewaltigt hatte und diese ihn im Gegenzug angegriffen und ermordet hatte, würde man sie dann mithilfe des Tuchs überführen können? Wo war es gekauft worden? Die Polizei könnte Geschäfte abklappern, aber es schien nicht neu zu sein, und deswegen war es mehr als ungewiss, ob das etwas bringen würde. Die Besitzerin des Tuchs benutzte Parfüm. Noch kannten sie die Marke nicht, aber das war nur eine Frage der Zeit. Das Tuch roch auch nach Zigarettenrauch, was möglicherweise auf den Besuch eines Lokals zurückzuführen war, aber vielleicht rauchte die Besitzerin auch selbst. Runólfur war Anfang dreißig. Es war denkbar, dass er eine Frau im gleichen Alter kennengelernt hatte. An dem Tuch hatte man dunkle Haare gefunden, ebenso in der Wohnung. Sie waren nicht gefärbt, die Frau war dunkelhaarig und trug die Haare kurz geschnitten.
Möglicherweise arbeitete sie in einem Restaurant, wo Tandoori-Gerichte angeboten wurden. Elínborg kannte sich mit indischer Küche recht gut aus. Sie hatte ein Kochbuch herausgegeben, in dem sich neben vielen anderen Rezepten auch einige Tandoori-Gerichte fanden. Sie hatte sich das notwendige Wissen über diese Zubereitungsart angeeignet und besaß zwei Tandoori-Tontöpfe, die zum Kochen erforderlich waren. In Indien wurde der Topf vergraben und mit Holzkohle befeuert; auf diese Weise war sichergestellt, dass das Fleisch bei großer Hitze von allen Seiten gleich gut gegart wurde. Elínborg hatte einige Male einen Tandoori-Topf im Garten hinter ihrem Haus vergraben, meistens jedoch stellte sie ihn in den Backofen. Die entscheidende Rolle für das Gelingen des Gerichts spielte die Marinade. Elínborg vermischte dazu verschiedene Gewürze in bestimmten Mengenverhältnissen mit Naturjoghurt: Für eine rötliche Färbung verwendete sie gestoßene Annatto-Samen, für eine gelbe Safran. Meistens experimentierte sie mit einer Mischung aus Cayennepfeffer, Koriander, Ingwer und Knoblauch, manchmal auch mit dem indischen Garam Masala, das sie aus gemahlenem Kardamom, Kreuzkümmel, Zimt, Knoblauch, schwarzem Pfeffer und ein wenig Muskat herstellte. Sie hatte auch mit gutem Erfolg isländische Kräuter und Gewürze beigemischt, beispielsweise Arktischen Thymian, Engelwurz, Löwenzahnblätter und Liebstöckel. Sie rieb das Fleisch, meist Hühnchen oder Schweinefleisch, mit der Marinade
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