Frevelopfer
als seist du aussätzig. Das bist du nicht und wirst es nie sein.«
»Ich … Ich habe einfach Angst«, sagte Unnur.
»Natürlich«, sagte Elínborg. »Das verstehe ich sehr gut. Ich habe schon anderen Frauen in deiner Situation gegenübergesessen. Ich sage ihnen immer, dass es auch um ihre Einstellung zu dem Täter geht. Denk daran, was für eine Bedeutung du diesen erbärmlichen Kreaturen dadurch zumisst, dass du dich hier einsperrst. Sie sollten dich nicht ins Gefängnis schicken können. Zeig ihnen, dass du imstande bist, gegen die Gewalt zu kämpfen, die sie anderen antun.«
Unnur starrte Elínborg an.
»Aber es ist so grauenvoll zu wissen … dass man niemals mehr … Mir wurde irgendetwas genommen, dass ich niemals wieder zurückbekommen werde. Es wird nie wieder werden, wie es war …«
»Aber so ist das Leben«, warf Sólrún ein. »Bei uns allen. Wir können nie etwas zurückbekommen. Deshalb blicken wir nach vorn.«
»Es ist geschehen«, sagte Elínborg in beschwichtigendem Ton. »Aber du darfst nicht dabei stehen bleiben. Dann behalten nämlich die erbärmlichen Kreaturen die Oberhand. Das darfst du nicht zulassen.«
Unnur gab ihr das Tuch zurück.
»Sie raucht. Ich rauche nicht. Und da ist auch ein anderer Geruch, ein Parfüm, das ich nicht benutze, und außerdem noch etwas, so etwas wie ein Gewürz.«
»Tandoori«, sagte Elínborg.
»Glaubt ihr, dass sie auf ihn losgegangen ist?«
»Das ist denkbar.«
»Sehr gut«, sagte Unnur mit zusammengebissenen Zähnen. »Gut, dass sie ihn umgebracht hat! Gut, dass sie das Schwein umgebracht hat!«
Elínborg warf Sólrún einen Blick zu.
Es kam ihr so vor, als zeige die junge Frau ein erstes Anzeichen dafür, dass sie auf dem Wege der Besserung war.
Als Elínborg spätabends nach Hause kam, lagen sich die beiden Brüder in den Haaren. Aron war das mittlere Kind, was für ihn immer nachteilig gewesen war. Er hatte es gewagt, an Valþórs Computer zu gehen, und der große Bruder beschimpfte ihn derartig, dass Elínborg sich gezwungen sah einzugreifen. Theodóra hörte Musik vom iPod und machte am Wohnzimmertisch Hausaufgaben. Sie ließ sich nicht durch ihre Brüder stören. Teddi lag lang ausgestreckt auf dem Sofa und sah fern. Auf dem Heimweg war er bei einem Chicken-fried-Imbiss vorbeigefahren, die Pappschachteln lagen in der ganzen Küche verstreut, ebenso wie kalte Pommes frites und die leeren Plastikbehälter für die Cocktailsoße.
»Wieso hast du das Zeug noch nicht weggeräumt?«, rief Elínborg ins Wohnzimmer.
»Lass es liegen«, erklärte Teddi. »Ich mach das nachher. Ich möchte bloß diese Sendung …«
Elínborg hatte keine Lust, ihm Vorhaltungen zu machen, und setzte sich zu Theodóra. Vor ein paar Tagen war sie mit ihr in die Sprechstunde ihres Lehrers gegangen, um mit ihm über zusätzliches Unterrichtsmaterial zu sprechen. Er hatte sich gern bereit erklärt, etwas für sie zu finden, und war der Meinung, dass sie die letzten zwei Klassen der Grundschule in einem Jahr schaffen könnte, um dann früher aufs Gymnasium zu wechseln, wenn sie das wollte.
»In den Nachrichten hieß es, dass ihr eine Vergewaltigungsdroge bei diesem Mann gefunden habt«, sagte Theodóra und nahm das Headphone aus den Ohren.
»Ich weiß wirklich nicht, wie die immer wieder an solche Informationen kommen«, stöhnte Elínborg.
»War er wirklich Abschaum?«, fragte Theodóra.
»Möglich«, sagte Elínborg. »Bitte hör auf zu fragen.«
»Sie haben auch gesagt, dass ihr nach einer Frau sucht, die in der Nacht bei ihm war.«
»Es kann sein, dass jemand, der bei ihm war, ihn attackiert hat. Aber jetzt Schluss damit!«, sagte Elínborg. »Was hast du in der Schule zu essen bekommen?«
»Brotsuppe. Die war scheußlich.«
»Du bist zu mäkelig.«
»Ich esse doch deine Brotsuppe.«
»Das will nichts heißen. Die ist genial.«
Elínborg hatte Theodóra erzählt, wie mäkelig sie selbst als Kind gewesen war. Sie war in altväterischen isländischen Verhältnissen mit der herkömmlichen isländischen Küche aufgewachsen. Theodóra die Essgewohnheiten dieser Zeit nahezubringen war eine ähnlich schwere Aufgabe, wie bei jungen Menschen Verständnis für die landwirtschaftlichen Produktionsmethoden früherer Zeiten zu wecken. Elínborgs Mutter war Hausfrau und nicht berufstätig gewesen, sie hatte sich um sämtliche Einkäufe gekümmert, und es gab zweimal am Tag warmes Essen. So war es üblich. Ihr Vater arbeitete in der Verwaltung der städtischen
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