Frevelopfer
zuletzt an der Bar gesprochen habe. Ich weiß nicht, wer er war, aber dieser Runólfur war es jedenfalls nicht.«
»Könntest du dir vorstellen, mit uns in seine Wohnung zu gehen und dich da umzusehen? Vielleicht würde das deine Erinnerung auffrischen.«
»Ich … Nein, ich … Ich bin eigentlich seitdem nicht mehr aus dem Haus gegangen.«
»Sie weigert sich, vor die Tür zu gehen«, sagte Unnurs Mutter. »Ihr solltet ihr vielleicht lieber Fotos zeigen.«
Elínborg nickte.
»Es wäre besser, wenn du dich überwinden könntest, mit uns zu kommen«, sagte sie. »Er besaß ein Auto, und es wäre uns sehr lieb, wenn du dir das auch ansehen würdest.«
»Ich werde es mir überlegen«, sagte Unnur.
»Am auffälligsten in seiner Wohnung sind Plakate an den Wänden mit Filmhelden aus Hollywoodfilmen. Superhelden wie Batman und Superman. Ist das irgendetwas, was …«
»Ich kann mich an gar nichts erinnern.«
»Dann ist da noch etwas«, sagte Elínborg und zog das blaue Tuch aus ihrer Tasche hervor. Es war immer noch in einer durchsichtigen Spezialtüte. »Dieses Tuch haben wir am Tatort gefunden. Ich hätte gern gewusst, ob es dir bekannt vorkommt? Ich darf es leider nicht aus der Tüte nehmen, aber öffnen kannst du sie.«
Sie reichte der jungen Frau die Tüte.
»Ich trage nie irgendwelche Tücher«, sagte Unnur. »Ich habe nur einmal in meinem Leben eines besessen, aber das ist es nicht. Habt ihr es in seiner Wohnung gefunden?«
»Ja«, antwortete Elínborg. »Auch das ist noch nicht an die Presse gegangen.«
Unnur begann zu begreifen, worauf diese Fragen abzielten.
»War da eine Frau bei ihm, als er … als er attackiert wurde?«
»Möglicherweise«, sagte Elínborg. »Es ist wohl vorgekommen, dass Frauen zu ihm in die Wohnung gekommen sind.«
»Hat er dieser Frau das Betäubungsmittel gegeben, oder hat er das vorgehabt?«
»Das wissen wir nicht.«
Schweigen senkte sich über das Wohnzimmer.
»Glaubst du etwa, dass ich es war?«, fragte Unnur auf einmal.
Die Mutter starrte ihre Tochter an. Elínborg schüttelte den Kopf.
»Nein, keinesfalls. Das darfst du nicht glauben. Ich hab dir bereits mehr gesagt, als du eigentlich wissen solltest, aber du darfst das auf keinen Fall missverstehen.«
»Du glaubst, dass ich ihn ermordet habe.«
»Nein«, erklärte Elínborg bestimmt.
»Ich könnte das gar nicht, selbst wenn ich es wollte. So bin ich einfach nicht«, sagte Unnur.
»Was sind das eigentlich für Fragen?«, warf ihre Mutter ein. »Unterstellst du etwa, dass meine Tochter diesen Mann ermordet hat? Sie geht doch überhaupt nicht mehr aus dem Haus! Sie war das ganze Wochenende bei uns!«
»Das wissen wir, ihr interpretiert viel zu viel in meine Worte hinein«, sagte Elínborg zu der Mutter.
Sie zögerte einen Augenblick. Mutter und Tochter wandten den Blick nicht von ihr.
»Trotzdem brauchen wir eine Haarprobe von dir«, sagte Elínborg schließlich. »Es geht darum festzustellen, ob du an dem Abend, als du das Opfer eines Unbekannten wurdest, in der Wohnung dieses Mannes gewesen bist. Ob er dir womöglich die Droge verabreicht hat und dich mit in seine Wohnung genommen hat.«
»Ich habe nichts getan«, sagte Unnur.
»Nein, selbstverständlich nicht«, mischte Sólrún sich ein. »Die Polizei möchte nur ausschließen, dass du seinerzeit in seiner Wohnung gewesen bist.«
»Und was, wenn ich tatsächlich dort war?«
Elínborg schauderte es bei ihren Worten. Sie war nicht imstande, sich vorzustellen, wie es für diese junge Frau war, nicht zu wissen, was in der Nacht, in der sie vergewaltigt worden war, vorgefallen war.
»Vielleicht erfahren wir mehr darüber, was dir in der Nacht widerfahren ist, als du auf dem Nýbýlavegur gefunden worden bist«, sagte sie. »Ich weiß, wie schwierig und wie schmerzhaft das ist, aber wir suchen doch alle nur nach Antworten.«
»Ich weiß nicht einmal, ob ich sie bekommen will«, sagte die junge Frau. »Ich versuche, so zu tun, als sei es nie passiert, als sei ich das nicht gewesen. Als sei es eine andere Frau gewesen.«
»Darüber haben wir doch gesprochen«, entgegnete Sólrún. »Du solltest das nicht in dich hineinfressen. Dann wirst du viel länger brauchen, um zu begreifen, dass du keinerlei Schuld trägst. Nichts von dem, was du getan hast, hat zu diesem Verbrechen beigetragen, du brauchst überhaupt nicht nach Entschuldigungen zu suchen. Du brauchst dich nicht zu verstecken, du brauchst dich nicht aus der menschlichen Gesellschaft zurückziehen,
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