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Frevelopfer

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Titel: Frevelopfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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geflüstert, als es sie angesprochen hatte, als hätte es nicht gewollt, dass irgendjemand hörte, worüber sie sprachen.

Sieben
    Elínborg landete kurz vor Mittag wieder auf dem Inlandsflughafen in Reykjavík und fuhr von dort in Begleitung einer Sachverständigen von der Frauenhilfe, die sich um Opfer sexueller Gewalt kümmerte, zu der jungen Frau, die auf dem Nýbýlavegur aufgefunden worden war und der man wahrscheinlich eine Vergewaltigungsdroge verabreicht hatte. Die Sachverständige hieß Sólrún und war um die vierzig. Elínborg kannte sie durch ihre Arbeit recht gut. Unterwegs unterhielten sie sich über die steigende Anzahl von Vergewaltigungen, die der Polizei gemeldet wurden. Die Häufigkeit solcher Fälle schwankte von Jahr zu Jahr, in einem Jahr waren es fünfundzwanzig, im darauffolgenden dreiundvierzig. Elínborg kannte sich mit der Statistik bestens aus und wusste, dass etwa siebzig Prozent der Vergewaltigungen in Privathaushalten stattfanden, und bei mehr als der Hälfte der Fälle kannten die Opfer die Täter. Vergewaltigungen, bei denen unbekannte Männer Frauen überfielen, hatten zwar zugenommen, summierten sich aber trotzdem nur auf etwa fünf bis zehn Fälle pro Jahr. Bei Weitem nicht alle Fälle wurden angezeigt, und nicht selten waren zwei oder mehr Männer involviert. Und jedes Jahr gab es etwa sechs bis zehn Fälle, bei denen der Verdacht bestand, dass den Frauen ein Betäubungsmittel verabreicht worden war.
    »Hast du uns angemeldet?«, fragte Elínborg.
    »Ja, sie erwartet uns«, antwortete Sólrún. »Ihr geht es immer noch sehr schlecht. Sie ist wieder zu ihren Eltern gezogen und geht den Menschen aus dem Weg, sie will am liebsten mit niemandem sprechen und kapselt sich ab. Zweimal in der Woche ist sie in Behandlung bei einem Psychotherapeuten, und ich habe ihr auch einen psychiatrischen Facharzt vermittelt. Sie wird noch lange brauchen, um darüber hinwegzukommen.«
    »Es lastet ihr also schwer auf der Seele.«
    »Und ob.«
    »Wahrscheinlich trägt dazu auch die Geringschätzung bei, die diesen Frauen seitens der Justiz entgegengebracht wird«, sagte Elínborg. »Verurteilte Vergewaltiger sitzen hierzulande im Schnitt anderthalb Jahre ein. Es ist schon traurig, dass Männer sich wie Tiere aufführen können, ohne dass sie dafür angemessen bestraft werden.«
    Die Mutter der jungen Frau nahm sie an der Tür in Empfang und führte sie ins Wohnzimmer. Der Vater war nicht zu Hause, wurde aber in Kürze erwartet. Die Mutter ging, um ihrer Tochter Bescheid zu sagen. Sie hörten einen kurzen Wortwechsel zwischen den beiden. Elínborg hörte die Tochter sagen, sie sei absolut dagegen, sie hätte nichts mehr mit der Polizei zu besprechen und wollte in Ruhe gelassen werden.
    Elínborg und Sólrún standen auf, als die beiden ins Wohnzimmer kamen. Die junge Frau hieß Unnur. Sie kannte Elínborg und Sólrún, reagierte aber nicht, als die Frauen sie begrüßten.
    »Entschuldige, dass wir dich noch einmal stören«, sagte Sólrún. »Es dauert nicht lange. Du kannst das Gespräch jederzeit abbrechen, wenn du möchtest.«
    Sie setzten sich, und Elínborg achtete darauf, keine Zeit auf überflüssige Dinge zu verschwenden. Sie sah, dass sich Unnur, die neben ihrer Mutter saß, elend fühlte, obwohl sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und selbstsicher zu wirken. Elínborg kannte die Spätfolgen schwerer körperlicher Vergehen und die seelischen Narben, die sie hinterließen. In ihren Augen war Vergewaltigung die gröbste Form der Körperverletzung, beinahe so etwas wie Mord.
    Sie zog ein Foto von Runólfur aus der Tasche, das Foto aus seinem Führerschein.
    »Kennst du diesen Mann?«, fragte sie und reichte Unnur das Foto.
    Unnur nahm es und warf einen kurzen Blick darauf.
    »Nein«, sagte sie. »Ich habe dieses Bild in den Zeitungen gesehen, aber ich kenne ihn nicht.«
    Elínborg nahm das Foto wieder an sich.
    »Glaubt ihr, dass er es war, der über mich hergefallen ist?«, fragte Unnur.
    »Das wissen wir nicht«, antwortete Elínborg. »Wir wissen nur, dass er in der Nacht, als er ermordet wurde, eine sogenannte Vergewaltigungsdroge bei sich hatte. Das sind Informationen, die nicht publik gemacht wurden. Aber jetzt verstehst du vielleicht, warum wir mit dir sprechen möchten.«
    »Ich weiß nicht, ob ich bei einer Gegenüberstellung auf diesen Mann deuten könnte«, sagte Unnur. »Ich erinnere mich an nichts, an gar nichts. Ich habe eine schwache Erinnerung an den Mann, mit dem ich

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