Frevelopfer
nachzuspionieren.«
»Monatelang? Wie lange macht er das denn schon?«
»Über ein Jahr.«
Elínborg war nicht der Meinung, dass sie spionierte, wenn sie auf seine Blogseite ging, die ja allen zugänglich war, aber zu viel einmischen wollte sie sich auch nicht. Sie war der Meinung, dass er selbst die Verantwortung dafür trug. Aber dass er so offen über seine Familie und Freunde schrieb, machte ihr Sorgen.
»Mir sagt der Junge auch nichts«, erklärte Elínborg. »Ich sollte vielleicht mit ihm reden. Oder sein Vater.«
»Ach, lass ihn doch einfach.«
»Er ist natürlich schon fast erwachsen und besucht das Handelsgymnasium. Ich habe das Gefühl, als hätte ich jegliche Verbindung zu ihm verloren. Früher konnten wir miteinander reden. Das tun wir jetzt eigentlich überhaupt nicht mehr. Jetzt gehe ich nur noch auf seine Blogseite.«
»Valþór ist von zu Hause ausgezogen, hier oben«, sagte Theodóra und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe.
Dann vertiefte sie sich wieder in ihr Buch.
»Hatte er irgendwelche Freunde?«, fragte Theodóra nach einiger Zeit, ohne aufzublicken.
»Was? Valþór?«
»Nein, der Mann, der umgebracht wurde.«
»Davon gehe ich aus.«
»Hast du mit ihnen gesprochen?«
»Nein, ich nicht. Es gibt andere, die sie ausfindig machen. Weshalb … Wieso denkst du darüber nach?«
Das Mädchen konnte manchmal unbegreifliche Dinge von sich geben.
»Was war der Mann von Beruf?«
»Er war Telefontechniker.«
Theodóra sah ihre Mutter nachdenklich an.
»Die treffen Leute«, sagte sie.
»Ja, sie gehen zu den Leuten nach Hause.«
»Sie gehen zu Leuten nach Hause«, wiederholte Theodóra und machte sich dann wieder über eine kinderleichte Mathematikaufgabe her.
Elínborgs Handy klingelte in der Diele. Sie hatte vergessen, es aus der Manteltasche zu nehmen. Es war ihr Diensttelefon. Sie ging es holen und nahm das Gespräch an.
»Sie haben die ersten Ergebnisse von der Autopsie geschickt«, sagte Sigurður Óli, ohne zu grüßen.
»Ja«, antwortete Elínborg. Es nervte sie, wenn die Leute am Telefon nicht grüßten, auch wenn es Kollegen waren. Sie sah auf ihre Uhr. »Hätte das nicht Zeit gehabt bis morgen?«, fragte sie.
»Möchtest du wissen, was sie gefunden haben, oder nicht?«
»Mensch, nun hab dich doch nicht so.«
»Hab du dich selbst nicht so.«
»Sigurður …«
»Sie haben Rohypnol gefunden«, sagte Sigurður Óli.
»Ja, das weiß ich. Ich war dabei, als sie uns das mitgeteilt haben.«
»Nein, ich meine, dass sie Rohypnol in Runólfur gefunden haben. Man hat das Zeug im Mund- und Rachenbereich nachweisen können.«
»Was sagst du da?!«
»Er war selbst vollgepumpt mit diesem widerlichen Zeug!«
Acht
Der Leiter der technischen Abteilung der Telefongesellschaft nahm Elínborg und Sigurður Óli kurz nach Mittag in Empfang. Sigurður Óli, der an einem anderen schwierigen Fall arbeitete, war schweigsam und nur halb bei der Sache. Außerdem gab es keine Anzeichen dafür, dass sich die Beziehung zwischen ihm und Bergþóra wieder einrenken würde. Er war vor einiger Zeit ausgezogen, und ihre Versuche, wieder zueinanderzufinden, waren nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Sie hatte ihn vor Kurzem zum Essen eingeladen, doch der Abend hatte wieder mit einem Streit geendet. Davon wusste Elínborg aber nichts, denn Sigurður Óli war der Meinung, dass sein Privatleben niemanden etwas anging. Sie hatten unterwegs fast die ganze Zeit geschwiegen, nur einmal hatte sich Elínborg erkundigt, ob er irgendetwas von Erlendur, der Urlaub genommen hatte und sich in den Ostfjorden aufhielt, gehört hätte.
»Keinen Ton«, sagte Sigurður Óli.
Elínborg war am Abend zuvor spät ins Bett gekommen und erst lange nach Mitternacht eingeschlafen, da sie die Gedanken an Runólfur und das Rohypnol nicht losgelassen hatten. Außerdem hatte sie keine Gelegenheit gehabt, mit Valþór über seine Blogseite zu sprechen, der Junge war ausgeflogen. Teddi schnarchte leise an ihrer Seite. Sie konnte sich nicht erinnern, dass er jemals Schlafprobleme gehabt oder wach gelegen hatte, was bestimmt ein Zeichen dafür war, dass er ein zufriedenes Leben lebte. Er beklagte sich selten, war eher schweigsam und legte wenig Initiative an den Tag. Er wollte Ruhe und Frieden um sich haben. Seine Arbeit forderte keine geistigen Anstrengungen von ihm, und er brachte sie auch nie mit nach Hause. Wenn sich Elínborg durch ihren Beruf sehr belastet fühlte, fragte sie sich manchmal, ob sie nicht doch besser
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