Frevelopfer
standen, und auf ihrem Schreibtisch lag nie etwas herum.
Elínborg hob das Buch auf. Es war eines von den Büchern, die sie in ihrer Jugend besessen und dem Mädchen überlassen hatte, ein Abenteuerroman aus der Serie einer bekannten englischen Jugendbuchautorin, der in ein wunderbar gepflegtes Isländisch übersetzt worden war, was die Jugendlichen heutzutage wahrscheinlich überforderte. Theodóra liebte diese Serie ganz besonders. Elínborg konnte sich daran erinnern, wie sie selbst das Buch verschlungen und sehnsüchtig auf jede neue Folge gewartet hatte. Sie musste unwillkürlich lächeln und blätterte durch die dicken gelben Seiten. Der Buchrücken war lädiert, und die Deckel waren von kleinen Händen verschmiert. Sie sah ihren Namen, den sie seinerzeit in ungeübter Schreibschrift auf der Titelseite platziert hatte. Elínborg, Klasse 3 G. Das Buch war mit hübschen Zeichnungen illustriert, die die gefährlichen Abenteuer der Kinder darstellten. Bei einer Zeichnung hielt Elínborg inne.
Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass diese Zeichnung etwas Wichtiges enthielt.
Sie starrte so lange hin, bis sie wusste, was es war, und betrachtete das Bild noch ein wenig länger nachdenklich.
Dann weckte sie Theodóra.
»Entschuldige, mein Schatz«, sagte sie, als Theodóra die Augen aufschlug. »Deine Großmutter lässt dich schön grüßen. Ich möchte dich etwas fragen.«
»Was?«, sagte Theodóra. »Warum weckst du mich?«
»Ich habe es vergessen – es ist so lange her, seit ich dieses Buch gelesen habe. Sieh mal, der Mann hier auf dieser Zeichnung, der hier, wer ist das?«
Theodóra kniff die Augen zusammen und starrte auf das Bild.
»Weshalb fragst du mich denn danach?«, entgegnete sie.
»Ich würde es gerne wissen.«
»Und deswegen weckst du mich?«
»Ja, entschuldige, du schläfst doch gleich wieder ein. Wer ist dieser Mann?«
»Warst du bei Oma?«
»Ja.«
Theodóra warf noch einmal einen Blick auf das Bild.
»Das ist Róbert«, sagte Theodóra. »Das ist der Schurke.«
»Weshalb hat er das da am Bein?«
»Das hat er von Geburt an gehabt. Es ist so eine Schiene, weil er mit einem Klumpfuß zur Welt gekommen ist.«
»Richtig«, sagte Elínborg. »Das war ein Geburtsfehler.«
»Ja.«
»Darf ich mir das Buch ausleihen? Du bekommst es morgen Abend zurück.«
»Wozu?«
»Ich muss es einer Frau zeigen, die Petrína heißt. Ich glaube, dass sie einen Mann mit so einem Fuß gesehen hat. Was macht dieser Mann in der Geschichte?«
»Er ist einfach schrecklich«, sagte Theodóra gähnend. »Sie haben alle Angst vor ihm. Róbert will die Kinder umbringen. Er ist der Bösewicht.«
Fünfzehn
Petrína konnte sich zuerst nicht an Elínborg erinnern. Sie stand in der halb offenen Haustür und sah Elínborg misstrauisch an, als diese versuchte, ihr zu erklären, wer sie war und dass sie vor ein paar Tagen schon einmal bei ihr gewesen war und sie nach einem Mann gefragt hatte, den Petrína auf der Straße vor dem Haus gesehen hatte.
»Was für einen Mann?«, fragte Petrína. »Den von den Stadtwerken? Die sind überhaupt nicht hier gewesen.«
»Sind sie immer noch nicht gekommen?«, fragte Elínborg.
»Die haben sich nicht blicken lassen«, antwortete Petrína und holte tief Luft. »Die ignorieren mich einfach«, fügte sie frustriert hinzu.
»Ich werde dort für dich anrufen. Dürfte ich vielleicht einen Augenblick hereinkommen und mit dir über den Mann reden, von dem du mir erzählt hast?«
Petrína starrte sie an.
»Na schön, komm rein«, sagte sie.
Elínborg folgte ihr in die Wohnung und machte die Tür hinter sich zu. Wie bei ihrem ersten Besuch schlug ihr Zigarettenqualm entgegen. Sie warf einen Blick in Richtung des mit Alufolie ausgekleideten Zimmers, doch die Tür war geschlossen. Die Wünschelrute, mit der Petrína die elektromagnetische Strahlung gemessen hatte, lag im Wohnzimmer auf dem Fußboden, und es hatte ganz den Anschein, als hätte Petrína sie dort hingeworfen. Elínborg bereute es, die Frau nicht ernst genug genommen zu haben. Etliche Tage waren vergeudet worden, und das in einem Fall, in dem es nur so wenige Spuren gab. Der humpelnde Mann, den Petrína durchs Fenster beobachtet hatte, war womöglich ein wichtiger Zeuge. Vielleicht hatte er etwas gesehen, was von Belang war, hatte etwas gehört oder war jemandem begegnet. Möglicherweise war das, was er am Bein gehabt hatte, eine ganz normale Bandage aufgrund eines Unfalls oder einer Behinderung gewesen, und Petrína
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