Frevelopfer
hatte sie als Antenne bezeichnet, weil ihre Gedanken nur um Uran und massive elektromagnetische Strahlung kreisten.
Petrína wirkte müder als bei ihrem ersten Zusammentreffen. Ihr Eifer war nicht mehr derselbe, er schien in den letzten Tagen nachgelassen zu haben, so als sei der Kampf gegen die Strahlung verloren. Wahrscheinlich war sie es leid, auf die Leute von den Stadtwerken zu warten. Elínborg hatte den Verdacht, dass die sich sowieso nicht bei der alten Frau blicken lassen würden. Sie erinnerte sich, dass sie vorgehabt hatte, beim Sozialamt anzurufen und sich dort nach Petrína zu erkundigen, aber sie war nicht dazu gekommen. Die arme Frau schien nirgendwo Schlaf und nirgendwo eine Zuflucht vor der gefährlichen Strahlung finden zu können. Elínborg sah, dass sie inzwischen auch den Fernseher in Alufolie eingehüllt hatte, und auf dem Küchentisch sah sie ein weiteres eingewickeltes kleines Paket, von dem sie vermutete, dass es ein Radioapparat war.
»Ich würde dir gern ein Bild in einem Buch zeigen«, sagte sie und zog das Abenteuerbuch aus der Handtasche.
»Ein Bild in einem Buch?«
»Ja.«
»Willst du mir das Buch schenken?«
»Das kann ich leider nicht«, sagte Elínborg.
»Nein, natürlich kannst du das nicht«, sagte Petrína beleidigt. »Du kannst es mir selbstverständlich nicht schenken, was rede ich da für einen Blödsinn.«
»Leider, meine Tochter …«
»Du bist die Frau von der Polizei?«
»Stimmt«, sagte Elínborg. »Du kannst dich also an mich erinnern?«
»Du hast versprochen, den Leuten von den Stadtwerken Druck zu machen.«
»Das werde ich tun«, versprach Elínborg. »Ich hatte es bloß vergessen«, sagte sie und schämte sich, die alte Frau im Stich gelassen zu haben. »Ich rufe nachher gleich an, wenn wir miteinander gesprochen haben.«
Elínborg schlug die Seite mit dem Bild des Schurken Róbert auf, dessen linkes Bein vom Knie bis zum Knöchel seltsam geschient war. Zwei Metallstangen waren am Schuh befestigt und wurden mit Lederbändern zusammengehalten.
»Du hast mir von einem Mann erzählt, der in der Nacht, als in der Straße da unten ein sehr schweres Verbrechen verübt worden ist, an deinem Haus vorbeigekommen ist. Du hast am Fenster gestanden, weil du auf die Leute von den Stadtwerken gewartet hast.«
»Die sind nie gekommen.«
»Ich weiß. Du hast gesagt, der Mann hätte gehumpelt und etwas am Bein gehabt, was du für eine Antenne hieltest. Du hattest da eine starke Strahlung verspürt.«
»Ja, massive Strahlung«, sagte Petrína mit einem Lächeln, das kleine gelbe Zähne zum Vorschein kommen ließ.
»Hat die Antenne so ähnlich ausgesehen wie das hier?«, fragte Elínborg und reichte ihr das Buch.
Petrína legte die halb gerauchte Zigarette ab, nahm das Buch entgegen und betrachtete die Zeichnung eingehend.
»Was für ein Buch ist das?«, fragte sie nach geraumer Zeit.
»Ein Abenteuerbuch, das meine Tochter gerade liest«, sagte Elínborg, die vor lauter Zigarettenqualm kaum Luft bekam. »Deswegen kann ich es dir leider nicht schenken. Sieht das so aus wie diese Antenne bei dem Mann, den du gesehen hast?«
Petrína nahm sich ausgiebig Zeit, um darüber nachzudenken.
»Ganz genauso sah das Ding nicht aus«, sagte sie schließlich. »Der hatte da so ein Ding am Bein, dieser Mann, das reichte hoch bis zum Knie.«
»Das hast du deutlich gesehen?«
»Ja.«
»Es war also keine Antenne?«, fragte Elínborg.
»Doch, es sah ganz bestimmt wie eine Antenne aus. Ist das ein altes Buch?«
»Hatte er vielleicht ein Gipsbein?«
»Nein, nein. Gips? Wer hat denn das behauptet?«
»Hätte es deiner Meinung nach ein Klumpfuß sein können?«
»Klumpfuß? Was für ein Blödsinn!«
»Sah es vielleicht eher danach aus, als hätte der Mann kürzlich einen Unfall gehabt?«
»Das Bein war viel größer«, erklärte Petrína. »Das war es, und zwar bestimmt, um Sendungen zu empfangen. Die habe ich gehört.«
»Du hast die Sendung gehört?«
»Ja«, erklärte Petrína im Brustton der Überzeugung und paffte an ihrer Zigarette.
»Das hast du mir das letzte Mal nicht gesagt.«
»Du hast ja auch nicht danach gefragt.«
»Und was hast du gehört?«
»Das geht dich nichts an. Du denkst ja doch nur, dass ich komisch bin.«
»Das denke ich nicht. Davon habe ich nichts gesagt. Ich finde nicht, dass du komisch bist«, sagte Elínborg und versuchte, überzeugend zu klingen.
»Du hast nicht bei den Stadtwerken angerufen, obwohl du gesagt hast, dass du es tun würdest.
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