Frevelopfer
mochte. Konráð trug eine bequeme Trainingshose. Die Reißverschlüsse an den Beinen waren hochgezogen, und wenn er sich bewegte, sah man die Schiene genau.
»Hast du versucht, mich im Büro zu erreichen?«, fragte er.
»Nein, ich habe nur hier angerufen«, antwortete Elínborg.
»Gut. Ich schlage mich seit ein paar Tagen mit einem Grippevirus herum. Habt ihr nach mir gesucht?«
»Ja, das haben wir«, sagte Elínborg. »In der Nähe des Hauses, wo der Mann ermordet wurde, hat man jemanden mit einer Beinschiene beobachtet, und das hat uns auf den Gedanken gebracht, dass es sich um eine dauerhafte Behinderung handeln könnte. Eine Orthopädin hat uns auf Polio und die ›Epidemie‹ hingewiesen. Auf der Liste, die wir bekommen haben, stand dein Name.«
Elínborg hielt sich zunächst mit allen Fragen zu Tandoori zurück.
»Ja, ich war in der ›Epidemie‹, das stimmt. 1955, während der letzten Poliowelle hierzulande, habe ich Kinderlähmung bekommen. Das hat sie mir genommen«, sagte Konráð und klopfte auf die Schiene. »Das Bein ist seitdem völlig kraftlos. Aber das ist dir natürlich bekannt, wenn du über die ›Epidemie‹ Bescheid weißt.«
»Du bist eines der letzten Opfer«, sagte Elínborg. »Ein Jahr später begannen sie mit den Schutzimpfungen.«
»Das stimmt.«
»Du bist dann eine ganze Weile im Quarantänekrankenhaus gewesen?«, fragte Elínborg. Sie spürte, dass er vollkommen ruhig war.
»Ja, das bin ich.«
»Sicher nicht sehr schön für einen Jungen?«
»Nein«, entgegnete Konráð höflich. »Es war eine schwierige Zeit. Wirklich schwierig. Aber du bist gewiss nicht hier, um darüber mit mir zu reden.«
»Du weißt natürlich, was im Þingholt-Viertel passiert ist«, sagte Elínborg. »Wir versuchen, uns Informationen über alle möglichen Kanäle zu verschaffen. Du warst dort unterwegs, nicht wahr?«
»Ja, aber ich bin nicht in die Nähe des Hauses gekommen, das in den Nachrichten gezeigt wurde. Ich hatte abends mein Auto in der Nähe geparkt, aber ich wollte es nicht über Nacht dort stehen lassen. Es war Samstag, und meine Frau und ich hatten beschlossen, uns einen netten Abend zu machen. Ich habe das Auto geholt, während sie auf mich wartete. Ich war vielleicht nicht ganz nüchtern. Wir haben einen Kneipenbummel gemacht. Ich weiß, dass man unter solchen Umständen nicht Auto fahren soll, aber ich konnte mir nicht vorstellen, den Wagen dort stehen zu lassen.«
»Der Parkplatz war aber ziemlich weit vom Zentrum entfernt?«
»Man hat doch immer Angst vor Vandalismus. In der Innenstadt geht es manchmal, wie soll ich das sagen, wild und chaotisch zu. Alles, was lange genug an einem Fleck steht, wird kurz und klein geschlagen.«
»Ja, es laufen genug Verrückte herum«, sagte Elínborg. »Ihr habt euch also einen schönen Abend gemacht?«
»Wahrscheinlich kann man das so ausdrücken.«
»Und du bist los, um das Auto zu holen?«
»Ja.«
»Konnte deine Frau nicht das Auto holen, wo du doch diese Behinderung hast?«
»Sie … Sie hatte mehr getrunken als ich«, sagte Konráð lächelnd. »Ich fand es sicherer, selbst zu gehen. Du darfst aber nicht glauben, dass wir so etwas jede Woche machen. So weit war es auch gar nicht bis zum Auto, wir haben uns an die Bankastræti und den Laugavegur gehalten.«
»Und du warst allein, als du den Wagen geholt hast?«
»Ja. Hat jemand mich die Straße entlanghumpeln sehen?«
Konráð lächelte, als hätte er etwas Witziges gesagt. Elínborg stellte fest, dass er viel und gern lächelte, und sie überlegte, ob sein Lächeln jetzt falsch war und ob sie ihm von dem Asien-Shop erzählen sollte, dem Tandoori-Topf und dem Tuch, das sie bei Runólfur gefunden hatten und das so auffällig nach Indien gerochen hatte. Sie beschloss, damit noch zu warten. Vernehmungen gehörten nicht zu ihren bevorzugten Tätigkeiten, denn Elínborg mochte es nicht, wenn die Leute sich in Lügengewebe verstrickten. Sie war überzeugt, dass das meiste von dem, was der Mann ihr bislang erzählt hatte, eine wohl einstudierte Lüge war. Sie musste ihn durch geschicktes Vorgehen dazu bringen, etwas zu sagen, was er gar nicht sagen wollte. Wenn sie ihm anscheinend sinnlose und ungefährliche Fragen stellte und ihn dadurch verunsicherte, bestand die Möglichkeit, dass ihm irgendetwas herausrutschte, was wichtig war und ihr helfen würde, den Fall besser zu verstehen. Für sie war eine Vernehmung so etwas wie ein Nähkästchenspiel. Wenn ihr Gefühl sie nicht trog, wussten
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