Frevelopfer
anderen und wusste, dass er Einmischungen in sein Privatleben unerträglich fand.
Sie stieg aus dem Auto aus und betrat die Tankstelle. Sie war alte Protokolle über tödliche Unfälle durchgegangen und auf den Namen des Lkw-Fahrers gestoßen, der in den Unfall verwickelt gewesen war, bei dem Runólfurs Vater ums Leben gekommen war. Damals hatte er für ein Transportunternehmen in Reykjavík gearbeitet, und Elínborg hatte sich bei dem Chef des Unternehmens nach ihm erkundigt.
»Ich hätte gern gewusst, ob Ragnar Þór in der Stadt ist. Ich habe seine Handynummer, aber er antwortet nicht«, sagte Elínborg, nachdem sie sich vorgestellt hatte.
»Ragnar Þór?«, sagte der Mann. »Der hat hier schon lange aufgehört.«
»Ach, und für wen fährt er jetzt?«
»Für niemand. Der fährt überhaupt nicht mehr seit dem Unfall.«
»Du meinst diesen tödlichen Unfall?«
»Ja, er hat danach aufgehört.«
»Wegen des Unfalls?«
»Ja«, sagte der Mann. Er saß in seinem Büro, blätterte Frachtlisten durch und hatte kaum aufgeschaut, als Elínborg hereingekommen war.
»Weißt du vielleicht, wo er jetzt arbeitet?«
»Ja, an einer Tankstelle in Hafnarfjörður, dort habe ich ihn zuletzt vor zwei Monaten getroffen. Wahrscheinlich wird er immer noch da sein.«
»Hat dieser Unfall ihm so schwer zu schaffen gemacht?«
»Das liegt doch wohl auf der Hand. Er hat aufgehört zu fahren, hat einfach komplett damit aufgehört.«
Elínborg war anschließend direkt zu der Tankstelle gefahren, die Ragnar Þórs früherer Chef ihr genannt hatte. Dort war nicht viel Betrieb, es ging eher geruhsam zu. An einer Zapfsäule stand ein Mann, der selbst tankte, um ein paar Kronen zu sparen. Zwei Angestellte saßen hinter der Theke, eine Frau um die dreißig und ein Mann über fünfzig. Die Frau saß an der Kasse und nahm keine Notiz von Elínborg, sondern starrte nach draußen, doch der Mann stand auf und fragte lächelnd, ob er etwas für sie tun könne.
»Ich suche nach Ragnar Þór«, sagte Elínborg.
»Das bin ich«, sagte der Mann.
»Dein Handy funktioniert wohl nicht?«
»Nein. Hast du versucht, mich zu erreichen? Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir ein neues zu kaufen.«
»Könnten wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«, fragte Elínborg, und ihr Blick wanderte dabei zu der Frau an der Kasse. »Ich möchte dich gerne etwas fragen, es dauert auch gar nicht lange.«
»Ja«, sagte der Mann und sah jetzt ebenfalls zu der Frau an der Kasse hinüber. »Am besten gehen wir nach draußen. Wer … Wer bist du?«
Sie gingen zusammen nach draußen, während Elínborg ihm sagte, dass sie von der Kriminalpolizei sei und in einem ziemlich komplizierten Fall ermittele. Sie habe ein paar Fragen an ihn, und zwar in Zusammenhang mit dem Unfall vor einigen Jahren, als ein Auto mit seinem Lkw zusammengeprallt und der Fahrer ums Leben gekommen war.
»Mit dem Unfall?«, wiederholte Ragnar Þór und schien sofort auf der Hut zu sein.
»Ich habe die Protokolle gelesen«, sagte Elínborg, »aber ich weiß, dass darin nicht immer alles steht. Deswegen wollte ich mit dir sprechen. Du hast danach aufgehört zu fahren, nicht wahr?«
»Ich … Ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann«, sagte Ragnar Þór und trat einen Schritt zurück. »Ich habe mich nie über diesen Unfall geäußert.«
»Das verstehe ich gut, es ist furchtbar, wenn man in so etwas verwickelt wird.«
»Bei allem Respekt, ich glaube, das wirst du nur dann verstehen können, wenn dir selbst so etwas passiert. Ich glaube, ich kann dir nicht weiterhelfen, und ich wäre dir dankbar, wenn du mich nicht damit behelligen würdest. Ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen und habe auch nicht vor, das jetzt zu tun. Ich hoffe, du respektierst das.«
Er machte Anstalten, wieder zurück in den Laden zu gehen.
»Es geht um den Mord im Þingholt-Viertel«, sagte Elínborg. »Du hast davon gehört?«
Ragnar Þór hielt inne. An einer Zapfsäule fuhr ein Auto vor.
»Der junge Mann, der ermordet wurde oder besser gesagt dem die Kehle aufgeschlitzt wurde, war der Sohn des Mannes, der bei dem Unfall ums Leben gekommen ist.«
Ragnar Þór sah Elínborg an, als hätte er nicht begriffen, was sie gesagt hatte.
»Sein Sohn?«
»Er hieß Runólfur. Er hat bei diesem Unfall seinen Vater verloren.«
Der Mann, der an der Zapfsäule vorgefahren war, saß immer noch im Auto und wartete darauf, bedient zu werden. Die Frau an der Kasse rührte sich nicht.
»Es war nicht meine Schuld«,
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