Friedemann Bach
sich auch ein älterer Mann von vagabundenmäßigem Aussehen umher, der eine Violine unter dem Arm trug. Aus seinem finsteren, von grauen Bartstoppeln umrahmten Gesicht sahen traurige, verschleierte Augen suchend über das Menschengewoge hin. Wenn sein Blick an der einen oder anderen Frau haften blieb, ging es zuweilen wie ein Ruck freudigen Erkennens durch die hagere Gestalt, freilich nur, um unmittelbar darauf wieder in sich zusammenzusacken. Schließlich entfernte sich der alte Musikant mit den schleppenden Schritten des Enttäuschten.
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Fünf Jahre später.
Der Kantor der Thomaskirche von Leipzig war gerade von der Gedächtnisfeier, die am Grabe Johann Sebastian Bachs alljährlich am Johannistage mit Gebet und Gesang der Thomasschüler veranstaltet wurde, nach Hause zurückgekehrt, hatte sein Weib mit einem Kuß begrüßt und den Kindern über die blonden Haarschöpfe gestrichen, als es an der Haustür klopfte.
Die Kantorin ging, um zu öffnen. »Was will Er?«
»Nichts, verehrte Frau! Nur bescheiden erkundigen will ich mich, wer jetzt hier wohnt.«
Beim Klang der Stimme wich alle Farbe aus dem Gesicht der Frau. »Alle guten Geister! -- Friedemann Bach!«
»Ulrike!« Er schrie es hinaus, vor Überraschung so laut und gellend, daß der Kantor besorgt herbeigestürzt kam.
»Doles!«
Die Freunde lagen sich in den Armen. Aber Friedemann riß sich nach der ersten freudigen Betäubung los: »Laßt mich! Lebt wohl, ich muß fort!«
Doles und Ulrike hielten ihn mit sanfter Gewalt zurück. »Nein, du gehst nicht, Bruder! Hast du mir nicht versprochen, daß du zu mir kommen willst, wenn du in Not bist? In dem Zustand lasse ich dich nicht weg! Es muß erst wieder anders mit dir werden, und Ulrike und ich wollen so lange an dir arbeiten, bis du an Leib und Seele gesund bist und deinem Namen keine Schande mehr machst!«
»Meinetwegen«, ließ er sich schließlich bewegen, »ich bleibe! Aber meine Schuld ist's nicht, wenn es euch später leid wird, euch einen Kerl wie mich auf den Hals geladen zu haben!«
Friedemann Bach lebte von dieser Stunde an im Hause seines Freundes, und das Kantorpaar unterließ nichts an zarter Aufmerksamkeit, um der Lage des Gastes alles Peinliche zu nehmen, ihm sein Unglück weniger fühlbar zu machen. Er bewohnte die kleine Stube, die Sebastian einst innehatte, und Ulrike ließ es sich als erstes angelegen sein, seine Kleidung so herzurichten, daß er überall erscheinen konnte. Als er alles Landstreichermäßige glücklich abgestreift hatte, wurde er den maßgeblichen Kreisen Leipzigs wieder vorgestellt. Man redete ihnen ein, daß der seit langem Totgesagte bisher im Österreichischen gelebt habe.
Friedemann selbst schwieg hartnäckig über seine wahren Erlebnisse, sogar seinen Freunden gegenüber. »Wie hätte er ihnen auch seinen Aufenthalt bei den Zigeunern, wie das unermeßliche Glück seiner Ehe mit Towadei begreiflich machen sollen? Wie hätte er ihnen erzählen können, daß er Monat um Monat das ganze Gebiet der Elbe abgestreift hatte, um die Verlorene wiederzufinden. Wie, daß er dann als bettelnder Organist von Kirchspiel zu Kirchspiel gezogen war und die Pfarrer um Almosen angegangen oder ihre Orgeln gespielt hatte, daß er, wieder in den Besitz einer Geige gelangt, von der Kneipe zum Kirmesplatz und wieder zur Kneipe gepilgert war, jahraus, jahrein, ein Ewiger Jude der Musik?!
Besonders schwer fiel es Doles, den Freund, der jeden Schaffenstrieb verloren hatte, zu einem Mindestmaß geregelter Tätigkeit anzuhalten, und er sah mit Beunruhigung dem ersten Orgelkonzert entgegen, das die alten Verehrer seiner Kunst mit Recht alsbald von ihm verlangen durften. Friedemann blieb sorglos und gelassen.
Und dann saß er vor den Pfeifen und spielte wieder, und Doles hörte, daß Sebastians Sohn nichts von seiner Kunst eingebüßt hatte, daß er dem Gewaltigen und Erhabenen seiner Spielweise vielmehr eine solch unnennbare Innigkeit, einen wehmütigen Schmelz, eine so religiöse Begeisterung vermählte, daß es war, als wenn der Geist des alten Bach über den Räumen der Kirche schwebe. Friedemann sah Doles und Ulrike an und nickte ihnen zu, seine Mundwinkel verkniffen sich zu einem wehmütig-bitteren Lächeln, er fugierte als Schluß des Konzertes das alte Lied: »Willst du dein Herz mir schenken?« Nur die Freunde erkannten, wie tief das Elend des Mannes war.
Mit feinem Verständnis und Einfühlungsvermögen wirkte das Kantorpaar auf eine Erneuerung, zumindest eine gesunde
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