Friedemann Bach
und alle Unebenheiten zwischen Vater und Sohn immer wieder auszugleichen wußte, war es zu verdanken, daß ein häufig drohender offener Zwiespalt verhindert wurde. Die peinliche Schweigsamkeit im Hause, die gedrückte Stimmung konnte sie indessen nicht bannen. Die fröhliche Friederike, die emsig waltende Christiane waren verheiratet, von den Knaben die meisten gestorben, und außer dem dreizehnjährigen Friedrich und dem elfjährigen Christian nur noch der blödsinnige David am Leben; auch die alte Hanne war tot.
So war das Häuschen, sonst zu eng für das bunte Durcheinander lieber Wesen, jetzt erstaunlich weit und beängstigend still geworden. Sebastian, von stetem Kummer, von Sorge und Gram umschattet, fühlte die wie etwas Fremdes und Unheimliches auf dem Hause lastende Bedrücktheit besonders stark, und er suchte sich vor ihr zu schützen, indem er rastlos, fast übermenschlich arbeitete. Er schuf nicht nur eine Fülle neuer Kompositionen, er begann auch das große Werk, in dem er alle Erfahrungen seines Tonlebens niederzulegen gedachte, die »Kunst der Fuge«.
Und noch ein anderes in dem stillen Hause hatte für Sebastian etwas Grauenhaftes, und doch konnte und wollte er nicht eingreifen: es war das Verhältnis Friedemanns zu dem blödsinnigen David.
Verwaist, wie er sich fühlte, widmete der ältere Bruder seinen ganzen Rest von Liebe dem Zehnjährigen, und das unglückliche Kind, sonst stumpf und trübe, zu jeglicher Fähigkeit des Lernens und jeder Regung menschlicher Selbsttätigkeit ungeschickt, hing ihm mit leidenschaftlicher Liebe an. Wenn Friedemann mit dem Knaben getändelt und ihn geherzt hatte, so daß gewissermaßen eine seelische Verbindung zwischen ihnen hergestellt war, führte er ihn, der ohne jede Kenntnis musikalischer Technik war, ans Klavier und schlug ein paar Akkorde oder Tonfiguren an. Es war, als wenn er eine Frage an das Kind richtete. Dann, ihn starr ansehend, lächelnd, nickend, brachte David die kleinen Hände auf die Tastatur und suchte das Gegebene zu haschen. Verworren, unklar zitterten dissonierend die Töne durcheinander, aus deren Chaos sich aber eine Melodie als Antwort schwang, die die Herzen der Hörer erbeben machte. Und wieder fragte der Bruder durch den Ton, und wieder antwortete der Kleine, modulierte das Thema, kehrte es um, sprang in Moll und Dur über und plauderte in nie gehörten Zungen mit dem Freunde seiner Seele. Eine geisterhafte Sprache war's zwischen den beiden, ein Verstehen, das über die Logik irdischen Verstandes ging. Erschrockenen Herzens lauschten die Eltern und flüchteten zum Gebet, weil ihnen solches Rätsel unerklärlich blieb. -- Stille lag auch heute über dem stillen Haus, aber sie war weniger beklemmend, atmete sogar eine heimliche Fröhlichkeit, eine glückhafte Erwartung. Heute war Heiliger Abend.
In der Wohnstube saßen Friedemann und der Vater an einem Tisch, der ans Fenster gerückt war. Jeder hatte eine glänzende Kupferplatte vor sich, der ein altes Fensterkissen als Unterlage diente, und der stählerne Stichel grub, rastlos hin- und herfahrend, nach dem vorliegenden Manuskripte Noten auf Noten, Takte, Intervalle und Kadenzen auf die vorgerissenen Notensysteme. Sebastian Bach, zu arm, um die Arbeit von einem Graveur anfertigen zu lassen, zu wenig der modernen Musik huldigend, um einen Verleger zu finden, mußte mit seinem Sohne die »Kunst der Fuge« mühevoll selbst in Kupfer stechen. Eine grüne Brille schützte des Alten empfindlich und schwach gewordene Augen, um seinen Mund schwebte ein bitterer Zug: »Ha ja, ich bin kein Hasse, kein Rameau, kein Couperin oder Chiabran, der Opern schreibt oder süße Kanzonetten, da ist's kein Wunder! Wer, zum Teufel, soll Kirchenmusik kaufen oder anhören? Das Jahrhundert schickt sich langsam an, den Herrgott aus dem Weltall zu streichen, wo soll da Geschmack an seinen Hymnen herkommen?!«
Nebenan in der Unterrichtsstube putzte Anna Magdalena den Christbaum auf; Friedrich und Christian waren noch in der Schule, David saß auf der Erde und spielte mit Papierschnitzeln.
»Wie mag's dem Altnikol und der Friederike in Naumburg gehen?« fragte der Vater, der seine Arbeit unterbrach, um das stumpf gewordene Instrument zu schleifen. »Sie haben lange nicht geschrieben, ich hab' schon gedacht, daß sie Weihnachten vielleicht kommen.«
»Na, wie soll's denen anders als gut gehen«, sagte Friedemann, ohne aufzusehen, »sie haben ihren eignen Herd, ihre gute Stellung, sie mögen sich's wohl sein
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