Friedemann Bach
da gewagt hatte, den halleschen Löwentrotz zu wecken. Die Senioren beschwichtigten ihre Korpsbrüder, und auch Friedemann eilte herbei, um Schlimmes abzuwenden. Aber wenigstens einen Ulk wollten sich die Studenten nicht entgehen lassen, und unter furchtbarem Geschrei und Gepolter wurde der »Kopf des Elenden« gefordert. »Schnabel raus! Raus mit 'm Schnabel! Will Er wohl raus, alter Storchschnabel« -- und, von seiner jammernden Ehefrau beschworen, erschien zähneklappernd der arme Schnabel am Fenster.
»Meine Herren, ich ...«
»Maul halten, altes Kamel!« brüllte der Präses der Versammlung. Die entstehende Stille wurde von Frau Schnabel schnell dazu benutzt, um ängstlich zu flehen: »Ach, verzeihen Sie doch meinem Manne, er versteht nicht, mit Dero Hochgeboren umzugehen!«
»Bravo!« ertönte es von unten. »Die Mutter Schnabel ist eine kluge Frau, sie hat die Hosen an!« -- Alles lachte. -- »Will Sie die Wache über Ihren krummbeinigen Gatten übernehmen, Frau Schnabel, daß der Schnabel künftig den Schnabel hält?«
»Ach ja, gewiß, er soll's nicht wieder tun!«
»Gut! Lassen Sie ihn ans Fenster treten und bringen Sie eine Schlafmütze und einen Kochlöffel!«
Schnabel zeigte sich wieder, und seine Frau holte die verlangten Gegenstände herbei.
»Setzen Sie ihm die Mütze auf! -- Halten Sie nun als seine Herrscherin den Löffel wie ein Schwert über sein Haupt! ... Er aber, unwürdiger Schnabel, scheußlichster aller Schnäbel, die je in Neid und Dummheit geöffnet wurden, spreche Er nach, was ich Ihm sage!«
Und unter wieherndem Gejohle wiederholte der Gemarterte laut und deutlich die ihm vorgesprochenen Worte: »Ich bekenne hiermit, daß ich ein grenzenloser Esel bin, der größte
mente captus
meiner Zeit! In Anbetracht dessen und meiner Unzurechnungsfähigkeit gelobe ich, nie etwas anderes zu sagen, als das, was mir meine Ehefrau, die die Hosen anhat, erlaubt!«
»Amen!«
»Amen!«
»So sei denn frei, wackrer Schnabel, sehr werter Hauptesel der Theologie! -- Es lebe die Landsmannschaft!« Und mit großem Lärm und Hallo verzog sich die jugendliche Volksjustiz.
Der Fluch der Lächerlichkeit, der seit jenem Tage dem Superintendenten anhaftete, ließ ihn nicht ruhen, bevor er seinen Rachegefühlen Genüge getan hatte. Er konnte sich zwar denken, daß er in Berlin kein leichtes Spiel haben würde, sandte nach geraumer Zeit aber trotzdem eine mit Schnabels Hilfe verfaßte geharnischte Klageschrift ab. Friedemanns Freund, der Postmeister, war jedoch wachsam gewesen und gab einen deutlichen Wink. Spex's Schreiben auf dem Fuße folgte daher eine »Wahrhafte Darstellung der Sachlage«, die durch unterschriebene Zeugenaussagen belegt war und Wolff zum Verfasser hatte. Das Landeskonsistorium getraute sich indessen nicht, von sich aus ein Urteil zu fällen und referierte dem König. »Dem Bach«, lautete dessen Entscheid, »stehe allein die Verfügung ober die Orgel zu, doch rate er ihm, sich nur um seine Kunst und sein Amt zu kümmern, sonst werde er ihn zum Teufel schicken. Dem Spex aber sei zu bedeuten, daß er ihn, wenn er die Kanzel noch einmal zu Allotria gebrauche, zum Zuchthausprediger in einer Festung machen werde.«
Als Spex diese Resolution empfing, wollte er schier in die Erde sinken. »Und doch!« trotzte er dann zu Schnabel, »und es wird doch die Zeit kommen, wo dem Herrn Bach ein Bein zu stellen ist!« Aber er behandelte von nun an Friedemann auf das zuvorkommendste, und dieser, so wenig Gutes er auch hinter diesem neuen Benehmen witterte, vergalt es mit freundlicher Artigkeit.
Friedemann war durch die Gefahren, die die unseligen Ereignisse unheildrohend wie Gewitterwolken um ihn geballt hatten, gewitzigt und vorsichtig geworden. Er lebte nun fast ausschließlich seiner Kunst. Regelmäßig veranstaltete er seine immer berühmter werdenden Orgelkonzerte; er verbesserte den von ihm geleiteten Chor, er schuf aus dem akademischen Orchester einen Klangkörper von hohem künstlerischen Niveau, er komponierte auch einige Stücke.
Seine ganze Leidenschaft aber, sein unbändiger Schaffensdrang, sein neubelebter Schöpferwille gehörten dem großen Werk, das er begonnen hatte: dem »Luzifer«. Noch tiefer, noch ergreifender, noch gewaltiger sollte es werden als das im Wahnsinn versunkene Fragment jener unheimlichen Karfreitagsnacht, sollte Krönung seines Künstlertums, Glanzpunkt seines Lebens sein!
Der »Luzifer« war nicht eigentlich ein Oratorium, nicht eigentlich eine Oper; er sollte
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