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Friedemann Bach

Friedemann Bach

Titel: Friedemann Bach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Emil Brachvogel
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ihn das Schicksal auf einen ruhigen Strand, eine einsame Insel, die ihm ein nie geahntes Paradies des Behagens und Friedens bescherte. Seine Seele wurde zum erstenmal auf sich selbst angewiesen, in sich versenkt zur Selbstliebe, Selbstanbetung. Durch die beständige Sorgfalt Cardins und die eigene Art seiner Behandlung der zweiten Seelenzerrüttung entrissen, genas er um so rascher, als dessen doktrinärer Spott ihn gewöhnt hatte, sich aller Herzensregungen, Erinnerungen und Hoffnungen zu schämen. Dadurch erreichten sein Körper und Geist eine solche Ruhe und Stetigkeit, ein zufriedenes Beharrungsvermögen im Genuß der Gegenwart, daß eine Wiederkehr des Wahnsinns nicht zu befürchten war. Das herrliche Landhaus, in dem er wohnte, aus dessen Fenstern er verächtlich herabblicken konnte auf die verlassene Welt, die Feinheit der Speisen und Weine, die geistreich schimmernden, verstandeskalten Gespräche mit dem Doktor, die Erkenntnisse, die er aus den philosophischen Werken schöpfte: das alles wurde für ihn ein Zauber, der unermeßlich, unzerstörbar schien. Seine Wangen wurden voll und rosig wie einst, und süße Faulheit zog wollüstig durch seine Glieder. Ohne Wunsch, ohne Begierde, dem Genusse des tatenlosen Daseins, der Freude seiner Selbstbeschauung, dem Überdenken seiner philosophischen Lektüre lebend, glitten ihm die Tage dahin.
    Immer mehr entfremdete er sich dem bürgerlichen Leben, und sogar die Sehnsucht nach Frauenliebe ging in seinem starren Verstandeskult unter. Cardin hatte ihm klargemacht, daß die Liebe eine eingebildete Herzensaffektion sei, die aus dem Geschlechtstriebe entspringe, Tierisches aus Tierischem. Sie sei eine erbärmliche Schwäche, habe keinen Bestand und bedinge den Wechsel, mithin den Konflikt, den Kampf und das Weh der Gesellschaft. Weiber seien treulos, noch treuloser als die Männer. Darin liege der Beweis, daß die Liebe an sich ein Unglück ist, denn das Glück muß dauernd sein, sonst ist es keins. Dem Menschen zieme es nur zu denken, nicht zu lieben, es sei denn: sich selbst!
    Cardin war ein tiefer Denker; er stand mit dem Bureau d'Esprit in Paris, den Salons der Frau von Tencin, Madame Geoffrin, Deffant, Julie l'Espinasse in beständigem Verkehr, und Voltaires, Diderots, Rousseaus, d'Alemberts Briefe waren unablässige Besucher seines Hauses, so daß er scherzhaft sagen konnte, er sei stets in »ausgezeichneter Gesellschaft«. Cardin war außerdem ein bedeutender Naturhistoriker, von tiefem Wissen in der Mathematik, Physik und Antike, und indem er aus allen diesen Disziplinen den Extrakt seiner Philosophie zog, wurde diese für Friedemann zur unbedingten Unumstößlichkeit. Nur vor einem Begriff stand seine zagende Seele noch still und zögerte, ihn zu zersetzen, vor »Gott«.
    Alles andere zu bezweifeln, war ihm erlaubt, denn er hatte alles verloren; aber der Glaube an seinen Gott und ebenso die kindliche Verehrung seines Vaters waren ihm geblieben, und wenn ihn Zweifel überkamen, flüchtete er sich in sein »Extrazimmer«.
    Die beiden Freunde hatten ausgemacht, daß es jedem unbenommen sein sollte, sich zu jeder Zeit von dem anderen abzusondern, um vollständig mit sich allein zu sein. Daher hatte sich, in entgegengesetzten Teilen des Hauses, jeder sein »Extrazimmer« eingerichtet, das von dem anderen streng gemieden wurde und zu dem auch sonst niemand Zutritt hatte.
    Friedemanns »Extrazimmer« war ein kleiner Raum, dessen Fenster nach Westen gingen, dorthin, wo die Abendsonne die fernen Zinnen der Drei Gleichen vergoldete, um dann in brennendem Farbenglühen zu versinken. An der Wand stand ein alter Tisch, auf dem aufgeschlagen das letzte Vermächtnis seines Vaters lag, die »Kunst der Fuge«, von der allzeit gütig gewesenen Hand mit Bemerkungen und mit Liebeslehren an den Sohn vollgekritzelt. Auch zwei vergilbte Notenblätter ruhten dort: »Willst du dein Herz mir schenken?« das eine, »Kein Blümlein wächst auf Erden« das andere.
    Hier sank Friedemann in die Knie, hier wehte Erinnerung, hier stand die Vergangenheit auf mit all ihren Schmerzen und all ihrer Lust. Hier nahm er seine alte Violine in die Hand und sandte der scheidenden Sonne die Seufzer seines Herzens zu ...
    Diese Stunden waren, wie der Doktor sagte, die »kranke Stelle«, aber Friedemann konnte und mochte sie nicht missen. Ja, er gönnte sie sich im Laufe der Zeit sogar immer öfter.
    Und seltsam, auch Doktor Cardin verschwand immer häufiger in seinem »Extrazimmer«. Wie dort die Feier

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