Friedemann Bach
flüsterte: »Verzeihe mir, Friedemann! Ach, ich liebe dich so sehr und wollte dich machen, wie ich bin, um dich gegen das Leben zu stählen! Nur deinetwegen habe ich ja noch Liebe zum Leben! Verzeih mir und ...«
Dumpf hallten von der fernen Kirche zwölf Glockenschläge durch die Nacht.
»Ach, der Fünfundzwanzigste! O, sie ruft mich ... sie ruft mich!«
Wie ein Schatten flog er davon. Die Treppe knarrte, die Tür von Friedemanns »Extrazimmer« schlug zu. Ein Augenblick lastender Stille trat ein, -- dann barst sie durch einen röchelnden Schrei, dem ein dumpfer Fall folgte, jäh auseinander.
Friedemann riß es von seinem Lager hoch. Eilig zündete er ein Licht an, hüllte sich in seinen Rock und lief die Treppe hinauf. Sein Zimmer war leer, aber in der Wand klaffte eine Spalte, durch die Licht fiel. Er trat näher und bemerkte eine Tapetentür, die nicht fest zugezogen war. Nie war sie ihm bisher aufgefallen, so genau war sie in die Wand eingepaßt.
Im Nebenzimmer regte sich nichts. Er faßte sich ein Herz und stieß die Tapetentür auf. »Entsetzlich!« stöhnte er, und sein Fuß blieb auf der Schwelle haften.
Das Zimmer war schwarz tapeziert. Ein Kronleuchter mit sieben Lichtern brannte an der Decke. Auf einem Tisch, der altarähnlich schwarz verhangen war, flammten zwei Wachskerzen. Zwischen ihnen stand in einem schwarzen Kasten, wie ein Bild aufgestellt, der bleiche Kopf eines schönen Weibes. Der Schädel schien über der rechten Schläfe eingeschlagen und blutig. Ein Wachsmodell nur, aber in grausenerregender Naturtreue nachgeahmt.
Cardin lag, als sei er zum Gebet niedergesunken, mit dem Oberkörper über dem Tisch. Sein Kopf ruhte auf einem Buch.
Mit einem geheimen Schauer trat der Eindringling näher und legte dem Regungslosen die Hand auf die Schulter, um ihn wegzuziehen. Die Gestalt rührte sich nicht. Friedemanns väterlicher Freund war tot, ein Hirnschlag hatte dem Leben des Daimons ein Ende gesetzt.
Entsetzen wollte Friedemann zur Flucht peitschen, aber Dankbarkeit und Mitleid, das Gefühl der Bruderliebe siegten. Er ermannte sich und blieb, ließ aber den Toten unangetastet; nur den wächsernen Frauenkopf drehte er nach der Wand um.
Dabei fiel sein Blick auf das Buch. Es war eine Bibel. Sie war aufgeschlagen, und dicke Unterstreichungen wiesen auf die Textstelle hin: »Alle Sünden sind den Menschen vergeben, aber die Sünden wider den heiligen Geist sind den Menschen nicht vergeben!«
Neben der Bibel entdeckte er einen versiegelten Brief. Er trug die Aufschrift: »An Friedemann Bach, meinen lieben Sohn. -- Mein Testament. -- Sofort lesen! Bei meinem Fluch: alles tun, was ich darin verlange!«
Friedemann sank, den Brief in seinen zitternden Händen hin- und herwendend, auf einen Stuhl. »Seltsam«, sprach er vor sich hin, »seltsam und unbegreiflich: Cardin, der Egoist, hatte mich von Herzen gern; Cardin, der Atheist, ist über der Bibel gestorben; Cardin, der Egoist, hat ein Weib geliebt, bis zum letzten Atemzuge, selbst dann noch, als es tot war.« Er öffnete das Testament und las:
»Mein lieber Sohn! -- Letzter, einziger Mensch, den ich liebend besessen, in dessen Umgang ich glücklich war! Höre mich an und tue, um was ich Dich bitte!
Von meiner Vergangenheit nur das: Ich war lange Arzt in Paris, daher meine philosophischen Bekanntschaften. Ich hatte eine Frau. Sie betrog mich. Ich behandelte sie infolgedessen hart; denn ich war früher ungemein jähzornig. Ich reiste mit ihr in die Provinz, wo ich ein Gut hatte. Ihr Liebhaber kam ihr nach, und als ich mich eines Tages verfrühte, fand ich -- beide. Er entfloh! Sie erschlug ich am 25. August um Mitternacht. Ich machte mein ansehnliches Vermögen flüssig und ging nach Deutschland.
Ich schweige von dem, was in mir vorging! Nach einer Totenmaske, die ich von ihr genommen hatte, fertigte ich das Wachsbild und stellte es mir ewig gegenüber. Das hatte ich mir fürs Leben auferlegt! Ich habe sie geliebt! Außer ihr nur Dich!
Denke von mir, meinem Leben, meinen Doktrinen, was Du willst! Ja, ich war ein Daimon!
Du rührst im Hause nichts an, läßt alles, wie Du es findest! Haus und Garten gehören der Trude. Der Bürgermeister hat eine Abschrift des Testamentes.
Mit dem angehefteten Schlüssel öffnest Du den Schreibtisch in meinem Schlafzimmer! Dort liegt an barem Vermögen: tausend Dukaten und zehntausend Taler in Papieren. Nimm sie, sei Egoist und verwende sie nur für Dich!
Verlasse sofort Arnstadt und, wenn Du's kannst, vergiß
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