Friedemann Bach
je enger man sich vor der Welt ins Gehäuse seiner Selbstgenügsamkeit zurückzieht, desto glücklicher ist man. Ich wünschte, ich hätte das früher getan.«
»Ein Glück für dich, daß du's nun kannst! Dieser empfindsame Muskel hier drinnen, den die Menschen Herz nennen, auf dessen edle Qualität sie sich so große Stücke einbilden, hat in Wahrheit den ganzen Jammer der Erde zu verantworten. Dieses dumme Herz ist's, das unsere grübelnden Gedanken mit besseren Welten, besseren Zeiten, schönen Hoffnungen, die sich nie erfüllen, abspeist, uns in Träumen unsere Zeit verschwenden läßt, während wir genießen sollten; das Herz ist's, das unseren Verstand, der uns allein vom Tier unterscheidet, stets hindert, sein alleiniges Herrscherrecht auszuüben. Du hast bisher nur gefühlt, das war dein Unglück; das hat dich unfähig gemacht, dem Leben draußen und diesem gemütvollen Gesindel deiner Mitmenschen zu widerstehen. Sie haben dich elend und wahnsinnig gemacht, und als du's warst, haben sie dich liegen gelassen! Du wurdest geisteskrank, weil du Herz hattest. Jetzt bist du gesund geworden, weil ich den eigentlichen Menschen in dir, deinen Verstand, geweckt habe. Gegen dich habe Herz, mit dir tue schön, meinetwegen, aber sonst laß nur den kalten, klaren Kalkül walten!«
»Wenn Sie nun aber kein Herz haben und allein den Verstand sprechen lassen, wie kamen Sie darauf, mich, den Bettler, den Wahnsinnigen aufzunehmen?«
»Weil ich in dir ein Objekt fand, mir selbst die Wahrheit meiner Doktrin zu beweisen. Weil es für den freien Menschen ein Selbststolz ist, wieder freie Menschen zu machen. Ich freute mich über mich, wenn ich dich belehrte, wenn ich dem Verstand wieder einen Repräsentanten mehr gewann.«
»Egoismus also?«
»Und wenn du tausendmal ein schiefes Gesicht ziehst, Friedemann, weil ich dich nicht aus Edelmut und Großherzigkeit aufnahm: jawohl, es war Egoismus! Ich bin ein Ichmensch, ich bin selbstsüchtig und sehe nicht ein, was ich Besseres tun könnte; aber ich habe die Anständigkeit, das, was ich bin, frei zu sagen, weil ich mir dessen klar bewusst bin.«
»Ich weiß denn doch nicht ...«
»Glaube mir, Friedemann, es lebt kein Mensch, der nicht Egoist wäre! Manchmal weiß er's nur nicht, oder er weiß es, schiebt aber sein Herz vor, um seinen Profit nicht sehen zu lassen. Ich bekenne mich nackt und ohne Beschönigung zur Selbstsucht! Wie ich aber für mich die Freiheit in Anspruch nehme, zu sein, wie ich bin, so gestehe ich sie auch jedem anderen zu. Was mir nicht gefällt, das lasse ich; wen ich nicht mag, den stoße ich ab. Wenn du mich nicht magst, so gehe!«
»Schön! Und was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen nun erklärte: Sie haben mich gepflegt und geheilt, aber -- Ihre Philosophie gefällt mir nicht! Obgleich mein Verstand sie billigt, engt sie mir das Herz ein. Ich möchte von Ihnen gehen, denn die Überschrift an Ihrer Türe ist wahr, Sie sind ein Daimon, -- aber ich kann nicht gehen! Ich kann nicht, wie früher, darben und dulden, den Bänkelsänger spielen, damit mein Magen voll werde! -- Was, frage ich, würden Sie zu einer solchen, ganz auf der Linie Ihrer Eigennützigkeitslehre liegenden Erklärung sagen?«
Cardin betrachtete nachdenklich und bewegt eine Weile seinen Schützling, dann sagte er: »Ich will dir, mein Sohn, damit du nicht an den Magen zu denken brauchst, eine gute Summe geben. Dann versuch' es wieder draußen in der schönen Menschenwelt, wo die warmen Herzen schlagen! Gehe aber nicht zu weit von hier; denn ich sage dir: du lebst mit deinem Gelde nicht ein Jahr unter dem Gesindel -- und du stehst wieder mit deiner Geige vor meiner Tür und spielst deinen wahnsinnigen Reigen! Dann aber -- könnte ich tot sein. Nun, willst du's wagen?«
Mit großen Schritten ging Friedemann auf und ab. Dann legte er seine Hand auf die des Doktors: »Nie wieder, Cardin! -- Sie haben recht: der Egoist allein ist glücklich, ich will es sein!«
»Bravo, mein Junge! Es lebe der Daimon über unserer Türe! -- Wein her und einen Kranz von Rosen für unsere Schläfe!«
Monate ungestörten Wohlseins begannen nun für Friedemann, und die Monate rundeten sich zu Jahren. Und wenn er Rückschau hielt, so mußte er erkennen: Das Drängen und Treiben seines Ehrgeizes und seiner Liebe hatten ihn in einer ewigen Erregung gehalten, hatten ihm nie Zeit gelassen, über sich selbst nachzudenken. Plötzlich, im allerwildesten Wirbel, als der Nachen seines Daseins schon am Zerschellen war, warf
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