Frieden auf Erden
Verzehr freilich nicht zurückging – weder bei Koteletts noch bei Wurstwaren. Andere verfochten die Notwendigkeit der Verbrüderung mit allem, was da lebt, und bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag wurden achtzehn Sitze von der Partei der Probakteriellen gewonnen, die mit der Behauptung angetreten war, die Mikroben hätten ein gleiches Recht auf Leben wie wir, dürften folglich nicht durch Medikamente hingemordet werden, sondern sollten genetisch umstrukturiert, also gezähmt und in ihren Freßgelüsten vom Menschen ab- und auf etwas anderes hingelenkt werden. Die allgemeine Gutherzigkeit kannte keine Grenzen, und herrschte auch keine Eintracht in der Frage, wer ihrer Verbreitung im Wege stehe, so war man sich doch einig, daß die Feinde der Güte und Gutherzigkeit kaltgemacht gehörten.
Bei Tarantoga hatte ich ein interessantes neues Nachschlagewerk gesehen: das Lexikon der Angst. Früher, so wurde darin erklärt, hatte die Angst ihre Quelle im Übernatürlichen: in Zauber und Bann, in den Hexen vom Blocksberg, in Ketzern und Atheisten, in schwarzer Magie, in Dämonen und büßenden Seelen, in einem liederlichen Leben, in der abstrakten Malerei, im Schweinefleisch. Im Industriezeitalter übertrug sie sich auf dessen Produkte. Die neue Angst sah die Schuld für alles verderbliche Wirken bei den Tomaten (sie sind krebserregend), beim Aspirin (es ätzt Löcher in die Magenwände), beim Kaffee (nach seinem Genuß kommen bucklige Kinder zur Welt), bei der Butter (klarer Fall: die Verkalkung), bei Tee, Zucker, Autos, Fernsehen, Diskotheken, Pornographie, Askese, Verhütungsmitteln, Wissenschaft, Zigaretten, Atomkraftwerken und Hochschulbildung. Ich war über den Erfolg dieses Lexikons überhaupt nicht erstaunt. Professor Tarantoga ist der Ansicht, daß der Mensch zwei Dinge braucht, zwei Antworten: die erste auf die Frage WER?, die zweite auf die Frage WAS? Bei ersterer geht es darum, WER an allem schuld ist. Die Antwort muß kurz, klar, bündig und eindeutig hinweisend sein. Zweitens braucht der Mensch das, WAS ein Rätsel ist. Seit zweihundert Jahren haben die Gelehrten sich dadurch unbeliebt gemacht, daß sie immer mehr und alles besser wußten. Wie angenehm, sie nun ratlos zu sehen vor dem Bermudadreieck, den fliegenden Untertassen und dem Geistesleben der Pflanzen! Welche Genugtuung, wenn eine schlichte Pariserin, in die Wechseljahre gekommen, die ganze politische Zukunft der Welt vorhersagt, während die Professoren dastehen wie mit dem Klammersack gepudert!
Der Mensch, sagt Tarantoga, glaubt an das, an was er glauben will . Man nehme nur einmal diesen Boom der Astrologie. Die Astronomen müßten nach gesundem menschlichen Dafürhalten über Sterne mehr wissen als die übrige Menschheit zusammengenommen, und sie behaupten, wir seien diesen Sternen völlig schnuppe. Das seien gewaltige Bälle aus glühenden Gasen, sie drehten sich seit dem Ursprung des Alls, und mit unserem Schicksal hingen sie ganz gewiß weniger zusammen als eine Bananenschale, auf der wir ausrutschen und uns ein Bein brechen könnten. Nun sind Bananenschalen aber völlig uninteressant, während seriöse Zeitungen astrologische Horoskope drucken und es sogar Taschenrechner gibt, die man vor Vollzug einer Börsentransaktion fragen kann, ob die Sterne dafür günstig stehen. Es wird kein Gehör finden, wer immer da sagt, eine weggeworfene Obstschale könne das Schicksal des Menschen stärker beeinflussen als sämtliche Planeten und Sterne zusammengenommen! Da ist jemand auf die Welt gekommen, weil sein Erzeuger – um es einmal so auszudrücken – nicht rechtzeitig einen Rückzieher und sich eben dadurch zum Erzeuger gemacht hat. Die andere beteiligte Person merkte, was da passiert war, schluckte Chinin und sprang im Schlußsprung vom Kleiderschrank, aber es half nichts: sie wurde zur Gebärerin. Der Jemand ist also da, hat eine Schule besucht und arbeitet in einem Laden für Hosenträger, auf der Post oder im Einwohnermeldeamt. Plötzlich erfährt er, daß sich alles ganz anders verhalten hatte. Die Planeten waren in eine besondere Konjunktion getreten, die Zeichen des Tierkreises hatten sich mit Bedacht und Ausdauer zu einem speziellen Muster gefügt, die beiden Halbkugeln des Himmels hatten eine Abrede getroffen, daß er ins Leben treten, daß er hinterm Ladentisch stehen oder hinter einem Schalterfenster sitzen konnte! Das gibt doch Auftrieb! Man fühlt das ganze Universum um sich kreisen, und selbst wenn es einem nicht günstig ist,
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