Friedhof der Kuscheltiere
vor neun auf, und das auch nur, weil meine Mutter mich rief. Mein Dad arbeitete damals bei der Eisenbahn und ging schon um sechs aus dem Haus.« Jud hielt nachdenklich inne. »Meine Mutter rief mich nicht einfach. Sie kreischte nach mir.«
Jud ging zum Kühlschrank, holte eine Flasche Bier heraus und öffnete sie am Schubladengriff unter dem Brotkasten und dem Toaster. Sein Gesicht wirkte gelb im Schein der Deckenlampe, gelb wie Nikotin. Er schüttete die Hälfte des Bieres in sich hinein, gab einen Rülpser wie einen Kanonenschuß von sich und blickte dann zu dem Zimmer hinüber, in dem Norma schlief. Dann kehrte sein Blick zu Louis zurück.
»Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen«, sagte er. »In all den Jahren ist es mir nicht aus dem Kopf gegangen. Andere wußten, was geschehen war, aber sie haben nie mit mir darüber gesprochen. Wahrscheinlich ist es ungefähr dasselbe wie mit dem Sex. Ich sage Ihnen das, Louis, weil Sie jetzt ein anderes Tier im Haus haben. Nicht unbedingt ein gefährliches, aber -- ein andersartiges. Ist Ihnen das schon klar geworden?«
Louis dachte an Church, der so unbeholfen vom Toilettensitz sprang und gegen die Badewanne prallte; er dachte an die trüben Augen, die fast, aber doch nicht wirklich stupide in die seinen starrten. Schließlich nickte er.
»Als ich hinunterkam, war meine Mutter in eine Ecke der Speisekammer zurückgewichen, zwischen den Eiskasten und eines der Regale. Auf dem Fußboden lag ein Haufen weißes Zeug -- Gardinen, die sie gerade aufhängen wollte. An der Schwelle zur Speisekammer stand Spot, mein Hund. Er war voller Erde, seine Beine waren schlammbespritzt. Das Haar auf seinem Bauch war verklebt und dreckverkrustet. Er stand einfach da -- er knurrte nicht einmal --, er stand einfach da, aber es war ganz offensichtlich, daß er sie in die Ecke getrieben hatte, ob das nun seine Absicht gewesen war oder nicht. Entsetzen hatte sie gepackt, Louis. Ich weiß nicht, wie Sie zu Ihren Eltern standen, aber ich weiß, wie ich zu meinen stand -- ich liebte sie beide sehr. Das Bewußtsein, etwas getan zu haben, was bei meiner eigenen Mutter Entsetzen hervorrief, nahm mir jede Freude, die ich vielleicht empfunden hätte, als ich Spot da stehen sah. Ich war nicht einmal überrascht, daß er da stand.«
»Ich kenne das Gefühl«, sagte Louis. »Als ich Church heute mittag sah, da hatte ich -- es kam mir vor wie etwas, das...« Er hielt einen Augenblick inne. Völlig natürlich war? Das waren die Worte, die ihm zuerst in den Sinn kamen, aber es waren nicht die richtigen Worte. »Wie etwas, das sein sollte.«
»Ja«, sagte Jud. Er zündete sich eine neue Zigarette an. Seine Hände zitterten kaum merklich. »Und wie mich meine Mutter da stehen sieht, noch im Unterzeug, da kreischt sie, ›Füttere deinen Hund, Jud! Dein Hund muß gefüttert werden, schaff ihn hinaus, bevor er mir die Gardinen ruiniert!‹
Also suchte ich ein paar Reste zusammen und rief ihn, und zuerst kam er nicht, zuerst war es, als hätte er den Namen nie gehört, und ich dachte schon, das ist ja gar nicht Spot, das ist irgendein Stromer, der aussieht wie Spot, sonst nichts...«
»Ja!« rief Louis mit einer Abruptheit, die ihn selbst erschreckte.
Jud nickte. »Aber als ich ihn das zweite oder dritte Mal rief, da kam er. Er kam irgendwie ruckweise auf mich zu, und als ich ihn mit auf die Veranda nahm, stieß er gegen die Tür und wäre fast umgefallen.
Aber er fraß die Reste, er schlang sie regelrecht hinunter. Inzwischen hatte ich den ersten Schrecken hinter mir und konnte mir allmählich vorstellen, was geschehen war. Ich kniete nieder und umarmte ihn, so glücklich war ich, ihn wiederzusehen. Im ersten Augenblick spürte ich Angst davor, ihn im Arm zu haben, und mir war -- aber das kann ich mir auch nur eingebildet haben --, als knurrte er mich an. Das war im ersten Augenblick. Doch dann leckte er mir das Gesicht, und...«
Jud schauderte und trank sein Bier aus.
»Louis, seine Zunge war kalt. Von Spot geleckt zu werden -- das war, als wischte man sich das Gesicht mit einem toten Fisch.«
Einen Augenblick lang schwiegen beide. Dann sagte Louis: »Erzählen Sie weiter.«
»Er fraß, und als er fertig war, holte ich den alten Zuber, den wir immer für ihn benutzten, unter der Hinterveranda hervor und badete ihn. Spot hatte es immer gehaßt, gebadet zu werden; gewöhnlich mußten mein Dad und ich es gemeinsam machen, und wenn wir fertig waren, hatten wir die Hemden ausgezogen, unsere Hosen waren
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