Friedhof der Kuscheltiere
Crandalls zu Rachels Eierpunsch herüber, und Louis ertappte sich dabei, daß er Norma in Gedanken untersuchte. Sie machte einen blassen, irgendwie durchscheinenden Eindruck, der ihm schon früher begegnet war. Seine Großmutter hätte gesagt, Norma begänne zu »schwinden«, und das war vielleicht kein schlechtes Wort dafür. Ganz plötzlich schienen sich ihre von der Arthritis geschwollenen und verkrüppelten Hände mit Leberflecken bedeckt zu haben. Ihr Haar wirkte dünner. Gegen zehn gingen die Crandalls nach Hause, und die Creeds begannen das neue Jahr vor dem Fernseher. Es war das letzte Mal, daß Norma in ihrem Haus gewesen war.
Der größte Teil von Louis' Semesterferien war trüb und regnerisch. Wenn er an die Heizkosten dachte, war er froh über das Tauwetter; dennoch war es unerfreulich und deprimierend. Er beschäftigte sich im Haus, baute für Rachel Bücherregale und Schränke und in seinem Arbeitszimmer ein Porsche-Modell für sich selbst. Als am 23. Januar die Vorlesungen wieder anfingen, war Louis froh, zu seiner Arbeit an der Universität zurückkehren zu können.
Die Grippe brach schließlich doch noch aus -- kaum eine Woche nach Vorlesungsbeginn kam es zu einer ziemlich ernsten Epidemie, und Louis hatte alle Hände voll zu tun; er arbeitete zehn, manchmal zwölf Stunden am Tag und kam dann völlig zerschlagen nach Hause -- aber im Grunde nicht unglücklich.
Am 29. Januar schlug das Wetter mit Macht um. Es gab einen Blizzard, gefolgt von einer Woche mit strengem Frost. Louis sah gerade nach, wie der gebrochene Arm eines jungen Mannes heilte, der verzweifelt -- und nach Louis' Ansicht vergeblich -- hoffte, im Frühjahr wieder Baseball spielen zu können, als eine der Hilfsschwestern ihren Kopf zur Tür hereinstreckte und sagte, seine Frau sei am Telefon.
Louis ging in sein Büro, um das Gespräch entgegenzunehmen. Rachel weinte, und er bekam es sofort mit der Angst zu tun. Ellie, dachte er. Sie ist vom Schlitten gefallen und hat sich den Arm gebrochen. Oder den Schädel. Der Gedanke an die verrückten Jungen und ihre Schlittenfahrt drängte sich auf.
»Ist den Kindern etwas passiert?« fragte er. »Rachel?«
»Nein«, sagte sie und weinte noch heftiger. »Mit den Kindern ist nichts. Es ist Norma, Lou. Norma Crandall. Sie ist heute morgen gestorben, gegen acht, gleich nach dem Frühstück, hat Jud gesagt. Er kam herüber, um zu sehen, ob du da bist, und ich sagte, du wärst vor einer halben Stunde abgefahren. Er -- oh, Lou, er sah so verloren und so fassungslos aus -- so alt --, aber Gott sei Dank war Ellie schon fort, und Gage ist noch zu klein, um zu verstehen...«
Louis runzelte die Stirn, und trotz der schlimmen Nachricht war es Rachel, die seine Gedanken beschäftigte, tastend und suchend. Denn hier war es wieder. Nichts, worauf man den Finger hätte legen können -- es war eine tief in ihr verwurzelte Einstellung: die Einstellung, daß der Tod ein Geheimnis war, etwas Grauenhaftes, das man vor den Kindern verheimlichen mußte, vor allem vor den Kindern, ungefähr so, wie die Damen und Herren der viktorianischen Zeit der Ansicht gewesen waren, die unerfreuliche, widerwärtige Wahrheit über den Geschlechtsverkehr müsse vor den Kindern verheimlicht werden.
»Großer Gott«, sagte er. »War es ihr Herz?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Sie weinte nicht mehr, aber ihre Stimme klang erstickt und heiser. »Kannst du kommen, Louis? Du bist sein Freund, und ich glaube, er braucht dich.«
Du bist sein Freund.
Ja, das bin ich wohl, dachte Louis leicht überrascht. Ich hätte nie gedacht, daß ein über Achtzigjähriger mein Freund sein könnte, aber es ist so. Und dann kam ihm der Gedanke, daß sie angesichts all dessen,was zwischen ihnen stand, einfach Freunde sein mußten. Und bei diesem Gedanken wurde ihm klar, daß Jud viel früher als er begriffen hatte, daß sie Freunde waren. Jud hatte ihm damals zur Seite gestanden. Und trotz allem, was seither geschehen war, trotz der Mäuse, trotz der Vögel, hatte Louis das Gefühl, daß Juds Entschluß wahrscheinlich richtig gewesen war -- und wenn nicht richtig, dann zumindest mitfühlend. Ja, er würde für Jud tun, was in seinen Kräften stand, und wenn das bedeutete, daß er beim Tod seiner Frau die Rolle des Sargträgers spielen mußte, dann würde er auch das tun.
»Ich komme«, sagte er und legte den Hörer auf.
32
Es war kein Herzanfall gewesen. Es war ein Gehirnschlag, plötzlich und vermutlich schmerzlos. Als Louis am Nachmittag
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