Friedhof der Kuscheltiere
schwarzes Eis die Straße. Die kälteste Zeit des Winters war angebrochen.
»Das weiß ich wirklich nicht, Kleines«, sagte Louis und hob Ellie auf seinen Schoß. Im Fernsehen lief eine wilde Schießerei. Ein Mann drehte sich um sich selbst und fiel, ohne daß einer von ihnen es bemerkte. Louis war sich -- mit einigem Unbehagen -- im klaren darüber, daß Ellie wahrscheinlich über Ronald McDonald, Spiderman und Burger King erheblich mehr wußte als über Moses, Jesus und Paulus. Sie war die Tochter einer Frau, die eine nichtpraktizierende Jüdin war, und eines Mannes, der ein abtrünniger Methodist war, und er argwöhnte, daß ihre Vorstellungen über den ganzen spiritus mundi höchst vage waren -- weder Mythen noch Träume, sondern bestenfalls Träume von Träumen. Es ist zu spät dafür, dachte er beiläufig. Sie ist erst fünf, aber es ist schon zu spät dafür. Du lieber Himmel, es ist so schnell zu spät.
Aber Ellie sah ihn an, und er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen.
»Darüber, was nach unserem Tod mit uns geschieht, glauben die Leute alles mögliche«, sagte er. »Manche Leute glauben, wir kämen in den Himmel oder in die Hölle. Manche Leute glauben, wir würden als kleine Kinder wiedergeboren...«
»Ja, Karnation. Wie bei Audrey Rose in dem Fernsehfilm.«
»Den hast du doch nicht gesehen!« Wenn Rachel erfuhr, daß Ellie Audrey Rose gesehen hätte, würde sie selbst einen Gehirnschlag bekommen.
»Marie hat mir in der Schule davon erzählt«, sagte Ellie. Marie bezeichnete sich selbst als Ellies beste Freundin; sie war ein unterernährtes, schmutziges kleines Mädchen, das immer aussah, als könnte es jeden Moment Eiterflechte, Kopfgrind oder sogar Skorbut bekommen. Rachel und Louis duldeten die Freundschaft, so gut sie konnten, aber Rachel hatte Louis einmal gestanden, daß sie, wenn Marie dagewesen war, immer den Drang verspürte, Ellies Kopf auf Nissen und Läuse zu untersuchen. Louis hatte gelächelt und genickt.
»Marie darf sich alle Filme im Fernsehen ansehen.« Louis beschloß, die mit diesen Worten ausgesprochene Kritik zu ignorieren.
»Nun, es heißt Reinkarnation, aber ich glaube, du weißt, was damit gemeint ist. Die Christen glauben an Himmel und Hölle, aber auch an Orte, die Vorhölle und Fegefeuer genannt werden. Und die Hindus und Buddhisten glauben an das Nirwana...«
An der Eßzimmerwand war ein Schatten erschienen. Rachel. Sie hörte zu.
Etwas langsamer fuhr Louis fort.
»Und wahrscheinlich gibt es noch viel mehr. Aber worauf es hinausläuft, Ellie, ist das: niemand weiß etwas Genaues. Die Leute behaupten zwar, sie wüßten es, aber wenn sie das sagen, meinen sie, daß ihr Glaube es ihnen sagt. Weißt du, was Glaube ist?«
»Ja...«
»Hier sitzen wir auf meinem Stuhl«, sagte Louis. »Denkst du, daß der Stuhl morgen auch noch hier sein wird?«
»Natürlich.«
»Dann glaubst du, daß er hier sein wird. Ich glaube es auch; Glaube ist die Überzeugung, daß etwas ist oder sein wird. Verstehst du?«
Ellie nickte nachdrücklich.
»Aber wir wissen nicht, ob er noch da sein wird. Schließlich könnte ja irgendein verrückter Stühledieb einbrechen und ihn mitnehmen, nicht wahr?«
Ellie kicherte. Louis lächelte.
»Wir glauben nur, daß das nicht passiert. Der Glaube ist eine großartige Sache, und die wirklich religiösen Leute möchten uns einreden, daß Glauben und Wissen dasselbe sind. Aber da bin ich anderer Meinung. Dafür gibt es in dieser Sache zu viele verschiedene Vorstellungen. Was wir wissen, ist nur dies: wenn wir sterben, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder überleben unsere Seelen und Gedanken auf irgendeine Weise die Erfahrung des Todes, oder sie tun es nicht. Wenn sie es tun, kann alles geschehen, was man sich ausdenken kann. Wenn nicht, dann ist der Film eben abgelaufen. Aus und vorbei.«
»Wie beim Schlafen?«
Er dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Eher wie bei einer Narkose, denke ich.«
»Und was glaubst du, Daddy?«
Der Schatten an der Wand bewegte sich und kam dann wieder zur Ruhe.
Die meiste Zeit seines Erwachsenendaseins -- seit seinem Studium zumindest -- hatte er geglaubt, der Tod wäre das Ende. Er hatte an vielen Sterbebetten gestanden und nie das Gefühl gehabt, eine Seele schösse an ihm vorbei auf ihrem Weg -- wohin auch immer; hatte sich dieser Gedanke nicht auch beim Tod von Victor Pascow aufgedrängt? Mit seinem Psychologie-Professor war er sich darüber einig gewesen, daß die Berichte über ein Leben nach
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