Friedhof für Verrückte
Gläser mit Bier herum.
»Hoffentlich ist da Gin drin«, sagte Constance. »Meine Güte, tatsächlich!«
Ich schloß meinen Projektor an die Steckdose an, fädelte Roys Film ein, und dann machten wir das Licht aus.
»Seid ihr bereit?« Ich schaltete den Projektor an. »Es geht los.«
Der Film ratterte.
Über Crumleys Wand flackerten Schattenbilder. Es gab nur dreißig Sekunden belichteten Film, und auch die waren ziemlich ruckartig, so als hätte Roy seine Lehmbüste in nur wenigen Stunden animiert, anstelle der vielen Tage, die man normalerweise benötigt, um eine Kreatur in Positur zu rücken, ein Bild aufzunehmen, die neue Stellung einzunehmen und das nächste Einzelbild aufzunehmen, und so weiter.
»Heiliger Strohsack«, flüsterte Crumley.
Was da über seine Tapete wandelte, verschlug uns allen den Atem.
Es war der Freund der Schönen, das Ding aus dem Brown Derby.
»Ich kann nicht hinsehen«, sagte Constance. Aber sie sah hin.
Ich schielte zu Crumley hinüber und fühlte mich wie damals, als ich mit meinem Bruder im dunklen Kino saß und sich das Phantom oder der Glöckner oder die Fledermaus auf der Leinwand aufbauten. Crumleys Gesicht war das Gesicht meines Bruders, vor dreißig Jahren, zugleich fasziniert und von Grauen erfüllt, neugierig und abgestoßen, der gleiche Gesichtsausdruck wie bei Leuten, die einen Verkehrsunfall sehen, aber nicht hinschauen wollen.
Denn dort auf der Wand, realistisch und ganz unmittelbar, war das Menschenmonster. Jede Verzerrung der Gesichtszüge, jede Bewegung der Augenbrauen, jedes Flattern der Nasenflügel, jede Bewegung der Lippen war dort zu finden, so perfekt wie die Skizzen, die Dore anfertigte, wenn er nach seinen ausgedehnten nächtlichen Streifzügen durch die rußgeschwärzten, rauchverhangenen Gassen von London nach Hause zurückkehrte, all die grotesken Szenen vor dem inneren Auge – seine leeren Finger zucken nach dem Stift, nach Tinte und Papier, und fangen an! Genau wie Dore seine Porträts mit vollkommener Erinnerungsfähigkeit hingekritzelt hatte, so hatte Roys Gedächtnis das Monster fotografiert und sich an die kleinste Bewegung eines Härchens in den Nasenflügeln, das unbedeutendste Blinzeln der Augenlider, das zerknautschte Ohr, den unaufhörlich triefenden höllischen Schlund erinnert. Wie das Monster uns von der Leinwand herab anstarrte, zuckten Crumley und ich unwillkürlich zurück. Es sah uns. Es brachte uns zum Schreien. Es kam auf uns zu, um uns umzubringen.
Die Wohnzimmerwand wurde wieder dunkel.
Ich hörte, wie mir ein Geräusch über die Lippen kam.
»Die Augen«, flüsterte ich.
Ich fummelte im Dunkeln herum, spulte den Film zurück, ließ ihn noch einmal laufen.
»Seht, seht, seht nur!« schrie ich.
Der Bildausschnitt zeigte eine Nahaufnahme des Gesichts.
Die wilden Augen waren in ihrem konvulsivischen Irrsinn festgehalten.
»Das ist kein Modell aus Ton!«
»Nicht?« sagte Crumley.
»Das ist Roy!«
»Roy!?«
»Unter der Maske, er spielt das Monster!«
»Nein!«
Die lebendigen Augen rollten wild, verschossen boshafte Seitenblicke.
»Roy …«
Und wieder wurde die Wand dunkel.
Genau wie das Monster, das ich dort oben auf Notre Dame getroffen hatte, mit den gleichen Augen, als es davongelaufen, geflohen war …
»Jesus«, sagte Crumley nach einer Weile. Sein Blick klebte noch immer an der Wand. »So etwas treibt sich nachts auf Friedhöfen herum!«
»Oder es ist Roy, der sich herumtreibt.«
»Das ist doch Unsinn! Warum sollte er das tun?«
»Das Monster hat ihn in den Schlamassel hineingeritten, wegen ihm wurde er gefeuert, beinahe umgebracht, da ist es das beste, es zu imitieren, das Monster selbst zu sein, falls einen jemand sieht. Roy Holdstrom existiert nicht, wenn er sich hinter dem Make-up versteckt.«
»Und trotzdem ist das bescheuert!«
»Klar, bescheuert ist er schon sein ganzes Leben lang«, sagte ich. »Aber jetzt – ist er wirklich durchgedreht?«
»Was verspricht er sich davon?«
»Rache.«
»Rache?!«
»Das Monster soll das Monster zur Strecke bringen«, sagte ich.
»Nein, nein.« Crumley schüttelte den Kopf. »Zum Teufel, laß den Film noch einmal laufen!«
Ich startete erneut. Die Bilder liefen auf unseren Gesichtern auf und ab.
»Das ist nicht Roy!« sagte Crumley. »Das ist ein Modell, aus Ton!«
»Nein.« Ich stellte den Film ab.
Wir blieben im Dunkeln sitzen.
Constance gab eigenartige Geräusche von sich.
»Mensch«, sagte Henry. »Wißt ihr, was das ist? Sie
Weitere Kostenlose Bücher