Friedhof für Verrückte
mit Drücken und Grunzen. Sie ging auf. Mit Henry zwischen uns hasteten wir hindurch. Die Tür rumste hinter uns wieder zu. Wir rannten weiter.
Weg von dem Monster, dachte ich, oder direkt in seine Arme?
»Nicht hinschauen!« rief Crumley.
»Wie meinst du das?« Henry ließ seinen Stock durch die Luft sausen, trampelte mit seinen Schuhen auf die Steinfliesen ein. Er wurde zwischen uns nach vorne geschubst und wieder abgebremst. Crumley, der vorneweg rannte, schnaufte: »Einfach nicht hinschauen, das ist alles!«
Doch ich hatte schon im Laufen hingesehen, nachdem ich mehrere Male gegen die Seitenwände gestoßen war. Wir bahnten uns unseren Weg durch ein mit Knochenhaufen und Schädelpyramiden, zerbrochenen Särgen und zerfledderten Trauerkränzen übersätes Terrain; ein Schlachtfeld des Todes, mit zerbrochenen Weihrauchgefäßen, Fragmenten von Statuen und verrotteten Ikonen, als hätte eine lange Parade des Verderbens inmitten der Feierlichkeiten ihre gesamte Ausstattung fallenlassen, um zu fliehen, ebenso wie wir flohen, hinter einem Lichtstrahl herhetzten, der von moosgrünen Wänden abprallte und in quadratische Löcher stocherte, aus denen das Fleisch verschwunden war und in denen nur noch blanke Zähne grinsten.
Nicht hinschauen? dachte ich. Nein: nicht stehenbleiben! Trunken vor Angst und Schrecken hätte ich Henry beinahe überrannt. Er wedelte mit dem Stock, verwies mich auf meinen Platz und sprang so behende weiter wie ein Erdkobold.
Wir stolperten von einem Land ins andere, aus dem Knochenarchiv ins Archiv der Büchsen, aus Marmorgewölben hinaus und hinein in Betongewölbe, und plötzlich befanden wir uns im guten alten Schwarzweiß-Territorium. Mit den aufgestapelten Filmbüchsen blitzten Filmtitel und Namen vorbei.
»Wo sind wir denn jetzt?« keuchte Crumley.
»Rattigan!« hörte ich mich schnaufen. »Botwin! Mein Gott! Wir sind bei – Maximus Films! Über, unter oder durch die Mauer!«
Und tatsächlich befanden wir uns in Botwins Filmkeller und in Rattigans Unterwelt, in schlecht belichteten Fotolandschaften, die sie 1920, ’22 und ’25 durchreist hatten. Wir waren nicht mehr in der Knochenstätte, sondern in den alten Filmverliesen, die Constance erwähnt hatte, als wir uns über das Studio unterhielten. Ich blickte mich um. Die echten Körper hatte die Dunkelheit verschluckt, doch die Filmgespenster nahmen Gestalt an, als Titel an uns vorüberrauschten: The Squaw Man, Das Geheimnis des Dr. Fu Manchu, Der schwarze Pirat. Nicht nur Filme aus der Produktion von Maximus, auch von anderen Studios, geborgt oder gestohlen.
Ich war innerlich zerrissen. Eine Hälfte entfloh der Dunkelheit, die hinter mir lag. Die andere Hälfte wollte stehenbleiben, anfassen, diese längst vergangenen Erscheinungen in Augenschein nehmen, die mich in der Kindheit heimgesucht und sich in niemals endenden Sonntagvormittagsvorstellungen meinem Gedächtnis eingeprägt hatten.
Nein! schrie ich auf, doch ich schrie nicht wirklich. Geht nicht fort! Chaney! Fairbanks! Der Mann mit der verfluchten eisernen Maske! Nemo unter Wasser! D’Artagnan! Wartet auf mich! Ich komme zurück. Das heißt, falls ich dann noch lebe! Bald!
Eine Mischung aus Furcht und Enttäuschung, aus großer Liebe und großer Angst kam in mir hoch.
Nicht auf diese Schätze schauen, dachte ich. Denk an die schwarze Dunkelheit. Lauf.
Und bleib um Gottes willen nicht stehen!
Wie ein dreifacher Paniklauf holten uns unsere Echos ein. Die letzten dreißig Meter oder so legten wir schreiend als ein einziger Klumpen Furcht zurück; Crumley zappelte wie ein verrückter Affe mit der Taschenlampe, der blinde Henry und ich prallten zusammen mit ihm gegen die letzte Tür.
»O Gott, wenn die zu ist!«
Wir berührten sie.
Ich erinnerte mich an die alten Filme und erstarrte. Die Tür bricht auf: eine riesige Flutwelle überschwemmt New York, ein salziger Sog zieht dich in tiefe Schlünde hinab. Die Tür bricht auf, und das Höllenfeuer läßt dich zu mumifizierten Klümpchen zusammenschnurren. Die Tür bricht auf, und sämtliche Monster aller Zeiten greifen mit ihren nuklearen Klauen nach dir und schleudern dich in einen Abgrund ohne Boden. Du fällst und fällst und fällst, endlos, schreiend.
Mein Schweiß bedeckte den Türgriff. Hinter der Türfüllung wartete Guanajuato, dieser lange Tunnel in Mexiko, durch den ich damals wie bei einem Spießrutenlauf des Schreckens hindurchgerannt war, wartete mitsamt seinen 110 Männern, Frauen und Kindern,
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