Friedhofskind (German Edition)
jemanden vergessen hatte.
Und dann war der Ball natürlich in die verkehrte Richtung geflogen, in ein Fenster der Datsche. Es war zu klassisch, um nicht zu passieren. Er erinnerte sich daran, wie der Ball an Iris’ Mutter vorbeigesaust war, in einem vollendeten Bogen. Sie hatte nichts getan, um ihn aufzuhalten. Sie hatte ihr Buch fallen gelassen, die Hände vors Gesicht geschlagen und eine Zeit lang ganz still da gesessen, während die letzten Scherben in Zeitlupe aus dem Loch in der Scheibe brachen.
Iris hatte danach drei Tage lang brav auf der Kirchenorgel geübt und war dann zu ihren Spielen außerhalb der gemähten Gärten zurückgekehrt, in den Wald, ans Wasser, zur Friedhofseiche.
Wenn Iris ihn danach mitgenommen hatte, hatten die Erwachsenen nie etwas davon gewusst, es war leicht gewesen, sich an ihnen vorbeizuschleichen. Sie hatten nie mehr Ball gespielt, aber noch oft Verstecken.
Jetzt drehte sie sich zu ihm um und winkte von Aljoschas Boot aus. Sie winkte ihn zu sich.
Sehr weit draußen auf dem Wasser schwammen die beiden Fischerboote bereits in einem weißen Nebelschleier, beinahe unsichtbar. Niemand war am Hafen. Lenz löste sich aus den Schatten und ging über die alten Bretter des Stegs zu Iris hinaus, und dann sah er, dass doch jemand da war. Jemand war im Wasser.
Es war das kleine Mädchen vom Haus mit dem Trampolin, die Tochter der Katzenfrau, und sie saß auf einer Luftmatratze, die dort unweit des Steges auf den seichten Wellen schaukelte. Sie trug einen rosa Badeanzug, kehrte ihnen den Rücken zu und starrte auf die Wasseroberfläche, und gerade, als Lenz zu Iris an Bord des Fischerboots geklettert war, tauchte dort ein Kopf auf: der Kopf eines Jungen.
»Und?«, fragte er außer Atem. »Wie lange war ich unter Wasser? Hast du gezählt?«
»Klar hab ich gezählt«, antwortete das kleine Mädchen. »Bis zwanzig.«
»Zwanzig Sekunden? Ach was, das war länger. Mindestens eine Minute!«
»Ich kann aber nur bis zwanzig zählen«, sagte das kleine Mädchen trotzig. »Danach habe ich aufgehört und gewartet.«
»Amy, du bist die blödeste Schwester, die es geben kann«, sagte der Junge und machte einen Versuch, ebenfalls auf die Luftmatratze zu klettern.
»He, nein, geh weg!«, rief Amy. »Das ist meine Luftmatratze!«
»Ist es überhaupt nicht«, sagte der Junge. »Du hast sie lange genug gehabt, los, runter da.«
Amy landete im Wasser, kreischend und protestierend, und ihr Bruder legte sich längs auf die Matratze und begann, mit den Händen zu paddeln. »Komm doch! Hol dir die Matratze!«
»Arschloch!«
»Arschloch darf man nicht sagen! Wetten, du holst mich nicht ein? Wetten?«
»Warte! Jackiiie! Warte!«
Jackie wartete nicht, und seine Schwester folgte ihm heulend. Das Wasser, durch das sie watete, reichte ihr bis zur Hüfte.
»Das erzähl ich Mama!«, schrie sie. »Und Papa, wenn er zurückkommt. Ganz bald, dann ist er wieder da …«
Jackie wendete die Matratze und paddelte zurück. »Du erzählst Papa gar nichts. Komm rauf hier, wenn es sein muss. Und lern endlich schwimmen.« Er zog sie zu sich, die Matratze kippte beinahe, aber nur beinahe, und Jackie hielt seine Schwester fest, damit sie nicht fiel.
»Wenn Papa wieder da ist«, sagte sie, »kann er es mir beibringen. Schwimmen. Oder?«
»Glaub schon«, meinte Jackie vage. »Kommt drauf an, wie lange er da ist. Er wollte mir auch beibringen, wie man richtig Holz hackt. Falls er danach noch Zeit hat, kann er dir Schwimmen beibringen. Vielleicht muss er aber auch gleich wieder nach Afrika.«
»Was macht er da noch mal?«
»Sachen zusammenschrauben. Die Afrikaner sind zu blöd, ihre eigenen Sachen zusammenzuschrauben. Komm, wir paddeln raus zu der roten Boje.«
»Nein! Da draußen ist es zu tief! Wenn ich runterfalle …«
Jackie ließ sich von der Matratze gleiten und tauchte weg. »Jackiiiee!«, schrie Amy wieder, doch Jackie war nur noch ein Schatten unter Wasser. Bei der roten Boje tauchte er auf, winkte und tauchte abermals ab. »Jackiiie!«
Diesmal tauchte er bis zum Steg. Tauchen, das musste man ihm lassen, konnte der Junge. Er zog sich mit einem Klimmzug auf den Steg und schüttelte sich.
»Ich geh nach Hause!«, rief er. »Frühstücken.«
»Nein! Warte! Ich kann doch nicht allein an Land!«
»Amy«, sagte Jackie und zog seine nasse Badehose aus. »Du kannst da draußen noch stehen . Stell dich nicht so an.« Er fischte seine Sachen aus dem Haufen, der am Ende des Stegs lag, streifte sie über und rannte
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