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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Schlimmeres, als eine Faust ins Gesicht zu bekommen.«
    »Ich weiß«, sagte er. »Annelie. Ich habe schon einmal jemanden geliebt.«
    »Winfried?«
    Es war vollkommen dunkel in der kleinen Schlafkammer. Auf das kleine Fenster hatte sich etwas Schweres und Schwarzes gesetzt und ließ das Mondlicht nicht herein.
    Lenz hörte ein Atmen vom Bett her, unregelmäßig und leise pfeifend. »Winfried?« Er tastete sich bis zum Bett vor, und einen Moment lang packte ihn das seltsame Gefühl, dass etwas anderes dort lag als Winfried. Etwas Unerklärliches, ein Geschöpf der Nacht, das wahrer war als Winfried selbst – eine Art Essenz von Winfried, die Winfried hinter sich gelassen hatte.
    »Sag es mir«, flüsterte Lenz, die Hand auf der Schulter des schwarzen Klumpens. »Sag mir, was passiert ist, als das Ruderboot kenterte. Ich muss wissen, ob Werter recht hat. Ob ich hinter Gitter gehöre. Eingesperrt wie … wie die Kaninchen«, fügte er mit einem bitteren Lachen hinzu. »Aljoschas Kaninchen. Was ist passiert an dem Tag, Winfried? Am Tag, als Iris ertrank? «
    »Frag ihn doch, den Kaninchenkönig«, murmelte Winfried und drehte sich im Bett auf die andere Seite, ächzend wie ein alter Baum. »Geh und frag Aljoscha. Hat doch immer so getan, als wüsste er mehr als wir. Denkt, er wär was Besseres, der feine Herr mit der Silberkette am Arm … frag ihn und lass mich in Ruhe.«
    »Ich habe ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen«, sagte Lenz. »Winfried …?«
    Doch Winfried antwortete nicht mehr. Da war nur sein gleichmäßiges Atmen und das Gefühl, dass der schwarze Klumpen Materie sich in sich selbst zurückgezogen hatte.
    Es war noch nicht ganz hell, als Lenz zu Aljoschas Haus hinüberging. Es lag mit den anderen geduckten, einstöckigen Häusern an der Straße, eingebettet in ein Nest aus dörflichem Misstrauen, in das sie sich hineinkuschelten wie schnurrende Kätzchen. Lenz fragte sich, wie es kam, dass Winfrieds Haus sich ans Ende eines schmalen Pfades zurückgezogen hatte und Annelies Haus, immer ein Gegenteil, auf einen Hügel hinaufgeklettert war, um allein zu sein.
    Niemand öffnete auf Lenz’ Klopfen. Eine Klingel gab es nicht.
    Aljoschas Briefkasten war vollgestopft mit Reklamesendungen, die oben herausquollen: Mediamarkt: Ich bin doch nicht blöd. Aldi – Sonderangebote . Feuchtes, labbriges, sich in Auflösung befindliches Druckwerk, das ohnehin nie einen Sinn gehabt hatte.
    Der überquellende Briefkasten beunruhigte Lenz nicht. Was ihn beunruhigte, war die Abwesenheit von Kaninchen. Es waren keine Kaninchen auf der Straße vor dem Haus, es waren keine Kaninchen im Vorgarten hinter dem Zaun. Lenz ging um das Haus herum. Es waren auch keine Kaninchen in den Kaninchenställen. Gewöhnlich büchsten sie aus, bis Aljoscha sie irgendwann wieder einfing und den Draht reparierte, und dann brauchten sie wieder ein paar Tage, um einen Durchschlupf zu finden. Diesmal hatte niemand die Kaninchen gefangen und niemand den Draht repariert.
    Lenz klopfte an eines der schmierigen, von innen mit Spitzenvorhängen versehenen Fenster.
    »Aljoscha!«, rief er, nicht so laut allerdings, dass die Nachbarsfrauen der Kuchenfraktion aufwachten. »Aljoscha? Hier ist Lenz Fuhrmann! Ich muss mit dir reden!«
    Er wartete, bis seine Worte sich gelegt hatten und in den kaninchenfreien Rasen gesunken waren. Dann holte er Luft, um noch einmal zu rufen.
    »Lass es«, sagte Iris. »Er ist nicht da.«
    Lenz fuhr herum. Sie saß auf einem der oberen Kaninchenställe und baumelte mit den Beinen.
    »Woher weißt du, dass er nicht da ist?«
    »Weil ich schon eine Weile darüber nachdenke, wo er ist«, sagte sie. »Deswegen.«
    Sie stellte sich hin, da oben auf dem Dach der übereinandergestapelten Ställe, und breitete die Arme aus. »Fang mich auf!«, rief sie und sprang, und er taumelte unter ihrem Gewicht. Sie lachte. Wie kam es, dass sie plötzlich etwas wog.
    Es war ihm immer normal erschienen, aber jetzt wunderte er sich darüber.
    »Was glaubst du, wo ist er? Aljoscha? Ich wollte ihn etwas fragen.«
    »Was denn?«
    »Winfried hat gesagt, er wüsste vielleicht etwas über mich. Über damals. Über die Sache, an die ich mich nicht erinnere. Und du dich nicht. Falls das stimmt, dass du dich nicht erinnerst.«
    »Es stimmt«, sagte sie. »Was soll man auch mit so vielen Erinnerungen anfangen? Sie verstopfen einem nur das Gehirn. Lass uns irgendetwas tun. Lass uns auf der Friedhofsmauer balancieren. Lass uns im Wald auf einen richtig

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