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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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stehen und dachte an Iris und an das Ruderboot. Zum ersten Mal seit über dreißig Jahren fragte er sich, was mit dem Boot geschehen war. War es ebenfalls angespült worden? Woher hatten sie überhaupt gewusst, dass Iris mit dem Boot gekentert und nicht ohne das Boot hinausgeschwommen war?
    Er fand Annelie in ihrem Sessel im Wohnzimmer, ein Buch im Schoß.
    »Dich sieht man ja auch selten in letzter Zeit«, sagte sie.
    »Winfried braucht mich. Er kommt nirgends mehr alleine hin.«
    »Ja, man hört davon.« Annelie schlug das Buch zu und legte es beiseite, behutsam. Bücher waren wertvoll, sie hatte es Lenz schon als Kind erklärt: Sie waren ein Draht nach draußen, sie waren ein Weg in die Welt. »Jetzt hast du da also einen Pflegefall im Haus.«
    »Er ist blind. Das Knie wird nicht besser. Und er weigert sich, in die Klinik zu gehen.«
    »Komm ins Licht«, sagte Annelie. »Irgendetwas ist doch passiert. Du kommst nur, wenn irgendetwas passiert ist.«
    Es war kein Vorwurf, es war eine Feststellung, eine sanfte und freundliche Feststellung, die sich anfühlte wie die Oberfläche ihrer Strickjacke. Lenz sehnte sich einen Moment lang danach, sein Gesicht in dieser Strickjacke zu verbergen; nichts zu sehen, nichts zu hören, weder Winfrieds fordernde Rufe noch Werters Anklage.
    Annelie musterte ihn einen Moment lang, und ihr Blick war noch weicher als ihre Stimme. Sie stand auf, streckte ihren Arm aus und fuhr mit dem Zeigefinger über seine Lippen.
    Er spürte ihren Zeigefinger nicht.
    Sie betrachtete das Blut daran.
    »Das erinnert mich«, sagte sie. »Das erinnert mich daran, wie es früher war. Das hatten wir lange nicht mehr.«
    Er ließ sich von ihr ins Bad führen, ließ sich auf einen Hocker setzen und sich das Gesicht waschen, und es war gut, derjenige zu sein, um den sich gekümmert wurde. Es war das Gegenteil von dem, was zu Hause geschah. Das Wasser, das in den Ausguss floss, war sehr rot.
    »Es ist nur die Lippe«, sagte Annelie. »Der Riss sieht allerdings ganz ordentlich aus. Sollte vielleicht genäht …«
    »Nein.«
    »Und wer …?«
    »Werter«, sagte er. »Er hat mich in Frau Hartwigs Garten gefunden, vor dem Kellerfenster, ich … dumm von mir. Sie telefoniert jeden Abend, und ich sehe ihr zu. Das ist alles. Werter denkt natürlich andere Dinge.«
    »Natürlich«, sagte Annelie und legte ihre Arme um ihn. Im Sitzen war er nicht zu groß, sich von ihr umarmen zu lassen. Er verbarg sein Gesicht doch noch in der Strickjacke. »Armer Junge«, flüsterte sie, »mein armer Junge.« Und schließlich, nach einer Ewigkeit: »Schläfst du hier?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Winfried braucht mich«, sagte er, stand auf und sah in den Badezimmerspiegel, vor dem in einem Zahnputzbecher eine weiße Tulpe blühte. Hinter der Tulpe blickte ihm sein Gesicht entgegen, sein nicht schönes Gesicht mit der aufgesprungenen, geschwollenen Lippe. Er erinnerte sich, wie er als Kind vor diesem Spiegel die Ähnlichkeit mit Lotte gesucht hatte, stundenlang.
    »Bist du sicher, Lenz, dass Winfried nicht alleine klarkommt? Du brauchst nicht auf dem Boden zu schlafen, weißt du. Letztes Mal hast du auf dem Boden geschlafen, aber …«
    Er sah im Spiegel, wie sie auf ihre Hände hinabblickte und mit den Knöpfen ihrer Strickjacke spielte. Sie wirkte nervös. Es passte nicht zu Annelie, nervös zu sein, und er weigerte sich, darüber nachzudenken.
    »Ich weiß«, sagte er. »Da ist das Sofa. Aber Winfried … manchmal wacht er nachts auf und weiß nicht, wo er ist.« Er strich mit dem Zeigefinger die weißen Blütenblätter der Tulpe entlang. »Ist das nicht merkwürdig, dass ich jetzt für ihn sorge? Früher war es umgekehrt. Wie alt war ich, als ich zu ihm kam? Vier Monate? Wie hat Winfried es geschafft, mich großzukriegen? Einem Baby die Flasche zu geben, es zu wickeln, es ins Bett zu legen …«
    »Ich war nie sehr weit«, flüsterte Annelie.
    »Wie bitte?«
    »Nichts.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn du gehen musst, geh.«
    Sie schob ihn sanft vom Spiegel weg, von den weißen Tulpen, aus dem kleinen Bad, in dem der blutige Waschlappen noch über dem Waschbecken hing.
    »Man hört«, sagte sie, als er schon auf der Treppe war, »dass der Umbrich wieder zurück ist. Aus der Klinik.«
    Lenz nickte. »Er wirkt etwas schweigsam.«
    »Erzählt nichts mehr über Scherben und blaue Kleider?«
    »Nein.«
    »Lenz … pass auf mit der Frau«, sagte Annelie. »Es gibt Schlimmeres als Geschichten über Scherben. Und es gibt

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