Friesenherz
waren schließlich immer auf der Suche nach lohnenden Exkursionszielen und kompetenten Ansprechpartnern. Einem von ihnen konnte ich am übernächsten Montag den Flyer ins Fach legen.
Eine Schrecksekunde lang dachte ich, die Tür der Pension sei verschlossen und ich müsse das Mädchen von der Rezeption doch noch aus dem Bett klingeln, aber schließlich verstand ich, dass sie nach innen aufging, und trat hinaus in den Novembermorgen.
Draußen auf der Straße war es noch stockdunkel, und der Wind fiel ohne Vorwarnung über mich her und schüttelte mich durch. Über Nacht hatte das Sturmtief noch einmal ordentlich an Wucht zugelegt. Die ersten Minuten lief ich allein auf dem Weg in Richtung Hafen, dann überholten mich Autos, offensichtlich ebenfalls auf dem Weg zur ersten Morgenfähre.
Ein paar Minuten später passierte allerdings etwas Seltsames: Auch aus der Gegenrichtung kamen jetzt Scheinwerfer auf mich zu, und ich hörte im Vorbeigehen das Schaben von Wischerblättern auf Windschutzscheiben. Hatte etwa so früh bereits ein Schiff angelegt und die ersten Autofahrer ausgespuckt?
Schließlich bog ich um die letzte Ecke, und die Mole lag vor mir. Gelbe Lampen tauchten die Szenerie in ein unwirkliches Licht. Ein einzelner Bus stand verloren auf dem riesigen Parkplatz. Alle drei Brücken am Anleger waren noch hochgeklappt. Das war nun erst recht sonderbar. Hätte die Fähre nicht längst da sein müssen? Etwas stand auf der Anzeigetafel, aber es war zu weit weg, ich konnte die Buchstaben nicht lesen.
Ich blickte zum Meer, über dem sich das erste Morgenlicht ausbreitete. Es sah aus wie eine Schwarz-Weiß-Fotografie, in allen Schattierungen von Sepia bis Graphit. Nur die roten Bojen, die wild auf den Wellen schaukelten, gaben mir das beruhigende Gefühl, dass nicht über Nacht alle Farbe aus der Welt gewichen war. Dann brachte ich meinen Rollkoffer wieder in Bewegung und ging auf den Fahrkartenschalter zu.
Neben dem einsamen Reisebus wartete ein Pulk von Teenagern auf einer Verkehrsinsel. Ganz offensichtlich eine Schülergruppe auf Klassenfahrt. Die Mädchen trugen knallbunte Gummistiefel, einmal lila mit weißen Blumen, einmal kariert wie eine schottische Wolldecke, und übten kreischend und kichernd einen Tanzschritt ein. Die Jungen standen am Rande, breitbeinig, Daumen in den Hosentaschen verhakt, ließen sich die Köpfe nass regnen und übten einen blicklosen Blick. Ich war immer wieder verblüfft, wie unterschiedlich sie sich entwickelten in diesem Alter, wie ziel sicher aus den Mädchen junge Frauen wurden und wie lange die meisten Jungen in diesem Niemandsland zwischen Kindheit und Erwachsensein herumtappten, nicht Fisch noch Fleisch, mal verunsichert, mal wütend darüber, wie lange sich ihre Verwandlung hinzog.
Ob ich es leichter gehabt hätte mit einem Sohn als mit einer Tochter? Ich dachte kurz darüber nach, verwarf den Gedanken aber sofort. Ein sechzehnjähriger Sohn hätte sich zwar kaum für Softporno-Fotos ablichten lassen, aber dafür hätte ich andere Sorgen mit ihm gehabt. Entweder Flatrate-Partys und Komasaufen. Oder das nächtelange Abdriften in die künstlich animierte, künst lich geschaffene Welt eines gewalttätigen Computerspiels. Wenigstens das interessierte Ronja nicht.
Von drei Fahrkartenschaltern war nur einer geöffnet, und davor stand noch niemand. Umso besser, dann kam ich früher an Bord und musste mich nicht länger nassregnen lassen. Was da gerade senkrecht vom Himmel stürzte, das stellte die Werbeversprechen meines Jackenherstellers nämlich auf die härteste Probe, die ich je am eigenen Leib erlebt hatte.
Ich kam näher und sah, dass zwar Licht brannte, aber das Sichtfenster zugezogen war. Schemenhaft konnte ich einen bärtigen Mann im blauen Seglerpulli erkennen, der dahintersaß und Zeitung las. Ich klopfte gegen die Trennscheibe. Er tat so, als würde er mich nicht bemerken. Ich klopfte noch einmal, jetzt energischer. Was dachte sich dieser katatonische Friese eigentlich? Schließlich hob er die Hand, sehr langsam, und öffnete.
»Einmal Festland, bitte«, sagte ich und hatte die Hand bereits in der Innentasche, die Finger am Nylonstoff meines Portemonnaies. Direkt dahinter konnte ich das feste Papier fühlen, Jans Flyer.
Der Bärtige musterte mich, dann nickte er, als habe er soeben etwas Entscheidendes über das Wesen der Menschheit erfahren.
»Moin«, sagte er schließlich.
»Bitte?«, fragte ich irritiert.
»Moin«, wiederholte er. »So viel Zeit muss
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