Friesenherz
weiter. Unwillkürlich ging ich auf Zehenspitzen, als ich die Steintreppe ins Erdgeschoss erreichte. Die Gummisohlen meiner Turnschuhe quietschten leise bei jeder Stufe.
Das Foyer war menschenleer, ebenso die Rezeption. Das konnte mir nur recht sein. Zwar hatte ich mir für den Fall der Fälle bereits alles zurechtgelegt – Yvette gegenüber würde ich etwas von einem familiären Notfall sagen –, aber ich war erleichtert, dass mir das alberne Theater erspart bleiben würde. Ich war schon fast an der Tür, da hielt mich etwas zurück, ein Foto, das ich nur aus dem Augenwinkel gesehen hatte, und ich blieb stehen, nein: Ich prallte förmlich zurück, so als wäre ich vorher unbemerkt an einer Gummileine gelaufen, die sich so lange dehnte, bis es endgültig nicht mehr weiterging.
Vor dem Empfangstresen lagen mehrere Stapel mit Flyern aus, Piratentörns inklusive Seetierfang und Rum aus der Original- Buddel, Heilschlamm-Massage und eine ökologische Vortragsreihe im Haus des Gastes. Und dann, ganz links, ein Häufchen im Post kartenformat. »Jan weiß Watt« stand in einer blauen Schreibschrift ganz oben, mit Telefonnummer und Adresse, und direkt darunter prangte Jans Porträt, die Haare sturmzerzaust, die Augen … nun, was mit den Augen war, muss ich wohl nicht noch mal wiederholen. Ein Foto, für das ich ihm beinahe jeden blöden Spruch verziehen hätte. Sogar ein Wortspiel mit dem Wort Watt.
Als ich das merkte, hatte ich es gleich doppelt so eilig.
Ich musste nicht nur Ronja retten. Sondern auch mich selbst.
Noch immer stand ich vor dem Flyer-Stapel, so unbeweglich, als steckte ich bis zu den Knien im Schlick fest, und fuhr mit dem Zeigefinger die Konturen seines Gesichtes auf dem Foto nach. Jan. Der hatte gestern Abend geschafft, was lange keiner mehr geschafft hatte. Was, wenn man ehrlich war, auch lange keiner mehr versucht hatte. Er hatte mich tatsächlich ein bisschen aus der Bahn geworfen.
Oder wenigstens aus dem Gleichgewicht gebracht. Mit diesen flüchtigen Berührungen, die etwas Besitzergreifendes hatten, etwas Selbstverständliches, das mich beinahe gleichzeitig ein wenig wütend machte und ein wenig schwach. Mit dem, was er erzählt hatte von seinen Wattwanderungen. Wie er manchmal ganz al leine loszog, der junge Mann und das Meer, um das alles für sich zu haben, den Wind und das Wasser, das beinahe unhörbare Knistern der winzigen Tiere im Schlick, der Muscheln und Würmer. Und wie er sich – und das flüsterte er mir erst ins Ohr, als wir die beiden letzten Gäste in der Bar waren – manchmal sogar einen kleinen Wettlauf mit den Elementen lieferte. Ein klein wenig zu spät losging von der Nachbarinsel, sodass ihm das Wasser bei der Rückkehr in den Prielen schon bis zu den Knöcheln stand. Ein Spiel, zwar nicht mit dem Feuer, aber mit dem Wasser. Und das konnte nicht minder gefährlich sein.
Das war der Punkt gewesen, an dem ich mich sehr schnell hatte verabschieden müssen. Nicht, weil ich noch eine Chance auf die letzte Fähre gehabt hätte. Die hatte leider doch ohne mich fahren müssen.
Auch nicht, weil der Kellner gedrängelt hätte. Der war schon eine Stunde vorher ins Bett gegangen und hatte Jan und mir sicherheits halber gleich noch zwei Runden Flensburger Pilsener hingestellt.
Sondern, weil ich plötzlich Angst bekam.
Angst vor diesem jungen Spieler, der mit mir in der Sitznische mit dem geschmacklosen beigen Blümchenbezug saß, vor allem Angst davor, auf welchen eingerosteten Schalter er bei mir drücken konnte, völlig unabsichtlich, nur um zu sehen, was geschah. Ich kannte das Spiel von früher, dieses Spiel für zwei Mitspieler ab dem fortpflanzungsfähigen Alter, und ich hatte die Regeln nie beherrscht. Schlimmer: Ich hatte nicht einmal verstehen wollen, dass es ein Spiel war. Zwar war ich mittlerweile deutlich älter, aber das bot mir keinen Erfahrungsvorsprung, eher im Gegenteil. Wenn ich überhaupt einmal etwas verstanden hatte, dann hatte ich es längst wieder verlernt. Beinahe war ich bei meinem raschen Aufbruch auch noch vor Jans Augen über die Türschwelle gestolpert. Und das hatte nicht am Bier gelegen. Obwohl ich das genauso wenig gewohnt war wie Gespräche mit blutjungen Blonden in halbdunklen Bars.
Ich griff nach dem obersten Flyer, legte ihn wieder zurück, schnappte ihn mir schließlich doch und verstaute ihn in der Innentasche meiner wetterfesten Jacke. Dabei redete ich mir ein, dass ich aus rein professionellen Gründen handelte. Meine Biolehrerkollegen
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