Friesenkinder
sofort.
»Entschuldigung, ich warte eigentlich auf meinen Freund Dirk Thamsen, aber es dauert noch, und der Kleine hat Hunger.«
Als sie Dirks Namen erwähnte, verzog sich plötzlich Dörtes Miene eigenartig. Argwöhnisch blickte sie auf den Kinderwagen. »Den Kommissar Dirk Thamsen?«
»Kennen Sie ihn?« Marlene war erstaunt, dann aber wurde ihr bewusst, der Freund hatte mit Sicherheit schon hier im Dokumentenhaus ermittelt, und sie nickte lediglich.
Dörte Paulsen schaute immer wieder auf Niklas, der nach wie vor lauthals schrie. Marlene wurde es etwas mulmig zumute. Irgendwie war ihr der Blick nicht geheuer, sie konnte ihn allerdings auch nicht wirklich deuten.
Als Dörte Paulsen merkte, wie Marlene sie beobachtete, wurde sie rot im Gesicht.
»Kommen Sie, Sie können ihn hier stillen.« Sie führte sie in ein Büro und ließ sie allein.
Marlene blickte sich um, alles wirkte ordentlich, irgendwie steril. Sie hob Niklas aus dem Wagen und schloss die Tür bis auf einen Spalt. Dann knöpfte sie ihre Bluse auf, setzte sich auf den Stuhl und legte das Kind an die Brust. Gierig begann der Kleine zu trinken, als habe er seit Tagen nichts zu essen bekommen.
»Nicht so eilig, junger Mann«, flüsterte Marlene und versuchte, ihn durch leichtes Streicheln zu beruhigen. Während Niklas genüsslich an ihrer Brust saugte, blickte sie sich weiter um. Außer einem Bild, das Marlene an Edvard Munchs ›Schrei‹ erinnerte, gab es wenig zu betrachten in dem Raum. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Sie war erschöpft. Das viele Rumlaufen war nicht gut für den Heilungsprozess ihrer Narbe. Sie spürte ein deutliches Pochen im Unterleib und war froh, sich ausruhen zu können.
»Deine Freundin wartet im Büro«, hörte sie plötzlich Dörte Paulsen. Dann Thamsens Stimme. »Danke.«
Die Tür wurde geöffnet und Dirk stand im Raum. »Marlene!«, begrüßte er sie. Dörte Paulsen stand in der Tür und hatte wieder diesen argwöhnischen Blick.
»Wo sind Tom und Haie?«
»Wollten sich ein wenig bei dem anderen Fundort umschauen«, sie grinste ihn an. Er trat noch einen Schritt weiter auf sie zu und blickte auf Niklas, der mittlerweile an Marlenes Brust eingeschlafen war. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass es aussah, als starre er auf ihre nackte Brust, und irgendwie war das ja auch so. Das Blut schoss ihm in die Wangen und er drehte sich um. Dörtes argwöhnischer Blick traf ihn.
Sein Gesicht explodierte beinahe, als ihm bewusst wurde, wie die ganze Situation auf sie wirken musste.
»Ja, ähm«, stotterte er, »ich such die beiden dann mal.« Eilig verließ er den Raum, ohne Dörte auch nur noch einmal anzublicken. Er wusste, es war ein Fehler, aber irgendwie war ihm die ganze Situation derart unangenehm, dass er lieber das Weite suchte.
Das Gedränge vor dem Dokumentenhaus war enorm. Thamsen benötigte einige Zeit, bis er sich durch die Menschenmasse gezwängt hatte.
Kurz überlegte er, in den Wagen zu steigen und den Freunden hinterherzufahren, verwarf dann jedoch den Gedanken. Ein wenig frische Luft würde ihm guttun und außerdem war es ja nicht weit. Er schlug den Feldweg hinter dem Parkplatz ein und lief los.
Obwohl das Gelände des ehemaligen KZs heute als landwirtschaftliche Fläche genutzt wurde und von dem einstigen Lager nichts mehr zu sehen war, machte sich doch ein beklemmendes Gefühl in ihm breit. Und das nicht nur, weil hier einst Tausende von Menschen misshandelt worden und auch umgekommen waren, sondern vor allem wegen der letzten Ereignisse.
Er wusste nicht, ob der Mord und die Entführung tatsächlich von den Mitgliedern der rechten Szene verübt worden waren, Fakt war aber, diese braune Pest hatte sich hier ganz schön ausgebreitet. Und irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, diese künstlichen Befruchtungen und auch die Entführung könnten etwas miteinander zu tun haben. Hatte es vielleicht sogar etwas mit Julia Völlers Totgeburt zu tun, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Hatten diese Typen ihr einfach ein neues Baby klauen wollen?
Aber das hätte sicherlich die Mutter der jungen Frau nicht mitgemacht, außerdem hatte sich ja auch ihr Zustand nicht gebessert. Dennoch blieb die Vermutung, die Patientinnen des toten Arztes mit den auffälligen Krankenakten könnten auf die eine oder andere Art in den Fall hineingehören. Er wusste nur noch nicht, wie.
Tom und Haie waren bereits an dem Gedenkstein. Im Wind flatterten immer noch Reste des Absperrbandes der Polizei und auch hier
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