Friesenrache
Nordfriesland war ja eher ein friedlicher Landstrich –, aber in dem einen oder anderen Fall war es auch um Geld gegangen. Und wenn er sich an seine Ausbildung zurückerinnerte, so waren auch dort in den theoretischen Übungen oftmals finanzielle Gründe Auslöser für die Straftaten gewesen. Es würde also sicherlich Sinn machen, sich mit dem Bruder des Toten zu unterhalten, dachte er und blickte zur Uhr. Es war halb neun, also durchaus eine akzeptable Zeit, um Friedhelm Carstensen einen Besuch abzustatten.
Anne und Timo saßen einträchtig vor dem Fernseher und verfolgten den Videofilm.
»Ist es okay, wenn ich euch kurz allein lasse?«
Er erwartete eigentlich ein stummes Nicken, doch die beiden sprangen unvermittelt auf. Das Geschehen auf dem Bildschirm schien sie nicht sonderlich zu fesseln. Vielleicht aber war es auch der Vorteil, den ein Video rekorder nun einmal mit sich brachte. Man konnte den gewünschten Film zu jeder beliebigen Zeit einfach weiterschauen und war auf Sendezeiten des Fernsehens nicht angewiesen. Ein Nutzen dieses elektronischen Fortschritts, der auch seinen Kindern durchaus bekannt war, allerdings Thamsen in dieser Situation zum Nachteil wurde.
»Nimmst du uns mit?« Seine Tochter blickte ihn mit großen, runden Kulleraugen an.
Er seufzte. So konnte er einfach nicht arbeiten. Natürlich gingen die Kinder vor, und es war ja auch Wochenende, und sie gierten geradezu danach, seine freie Zeit mit ihm zu verbringen. Die ganze Woche über waren sie meist in Gesellschaft anderer Personen; Lehrer, Betreuer vom Hort, Tagesmutter, Großeltern. Verständlich, dass sie zumindest an seinen freien Tagen etwas mit ihm zusammen unternehmen wollten. Aber er hatte nun einmal einen Mordfall aufzuklären. Ein Mensch war kaltblütig umgebracht worden, jedenfalls ging er momentan davon aus, und der Mörder lief irgendwo da draußen frei herum.
»Bitte Papa«, quengelte nun auch Timo.
»Na gut«, gab er schließlich nach, »aber ihr müsst während meines Besuchs bei einem Mann im Auto warten und euch anständig benehmen.« Die beiden nickten artig.
Er würde sich bei Friedhelm Carstensens Befragung eben beeilen müssen. Anschließend konnte er mit den Kindern in der Dorfwirtschaft etwas essen gehen. Er hatte sowieso keine Lust zum Kochen, und zum Einkaufen war er auch wieder nicht gekommen. Außerdem konnte er vielleicht ungestört ein paar Worte mit dem Wirt wechseln. Neue Erkenntnisse versprach er sich davon zwar nicht – die sturen Dorfbewohner würden ihm gegenüber wahrscheinlich eher wortkarg auftreten –, aber schaden konnte es sicherlich auch nicht, wenn er sich selbst ein Bild von der allgemeinen Stimmung im Dorf machte. Manchmal erfuhr man aus dem Verhalten des Umfelds des Opfers mehr als aus irgendwelchen ausgeschmückten Aussagen anderer Beteiligter. Eventuell war es ihm ja sogar möglich, unauffällig schon mal ein paar Alibis abzuklopfen.
»Dann holt eure Jacken und los.«
Timo und Anne sausten in ihre Zimmer, und keine fünf Minuten später saßen sie auf der Rückbank seines alten Ford Kombis und schnallten sich an.
Das Meer kräuselte sich durch den kräftigen Ostwind ungewöhnlich stark. Dichte graue Wolken jagten wild am Himmel vorüber. Die Fähre der ›Wyker Dampfschiffs-Reederei‹ mit dem sagenträchtigen Namen ›Rungholt‹ kämpfte sich tapfer gegen die hohen Wellen Richtung Föhr.
Trotz der Kälte standen die drei Freunde an Deck und blickten erwartungsvoll der sich langsam nähernden Insel entgegen. Sie hatten sich warm angezogen, Marlene sogar ein Paar Handschuhe übergestreift.
»So mag ich das Meer eigentlich am liebsten«, begeisterte sie sich und betrachtete fasziniert die sich am Schiff brechenden Wellen, deren Gischt beinahe bis zu ihnen hinauf an die Reling schlug.
»Da sieht man auch erst mal, was für 'ne Kraft das Wasser hat«, bemerkte Tom und schlang seine Arme fester um ihre Hüften, so als befürchte er, Marlene könne durch den starken Wind von Bord geweht werden.
»Na, nich' nur das Wasser«, korrigierte Haie den Freund. »Der Wind tut natürlich auch sein Übriges. Schaut nur, was für Anstrengungen selbst die Möwen unternehmen müssen, um gegen den Sturm anzufliegen.«
Er hob seine Hand und deutete auf die Meeresvögel, die mühsam versuchten, mit der Fähre mitzuhalten. »Aber das gehört dazu. Wind und Wasser kann man einfach nicht trennen. Sind halt Naturgewalten. Und wenn wir Glück
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