Frisch getraut: Roman (German Edition)
potthässlichen Krawatte mit einem heulenden Wolf herausgeputzt.
»Sie und Joyce haben das alles für Ihren Vater organisiert.« Roland nahm einen Schluck von irgendwas auf Eis und fügte hinzu: »Sie waren wie eine Familie für Leo. Haben sich immer gut um ihn gekümmert.«
Sebastian hörte einen tadelnden Unterton heraus. Es war nicht das erste Mal an jenem Abend, dass er das Gefühl hatte, auf höfliche Art gerügt zu werden, weil er nicht schon früher zu Besuch gekommen war, doch er kannte Roland nicht gut genug, um sicher zu sein.
Rolands nächste Worte räumten jeden Zweifel aus. »Hatten immer für ihn Zeit. Nicht wie seine eigene Familie.«
Sebastian lächelte säuerlich. »Der Highway ist in beide Richtungen befahrbar, Mr. Meyers.«
Der ältere Mann nickte. »Das stimmt allerdings. Ich habe sechs Kinder und kann mir nicht vorstellen, eins von ihnen zehn Jahre lang nicht zu sehen.«
Es waren eher vierzehn Jahre gewesen, aber wer zählte schon mit? »Was sind Sie von Beruf?«, fragte Sebastian und wechselte mit voller Absicht das Thema.
»Tierarzt.«
Sebastian schlenderte am Vorspeisenbüfett entlang. Unmittelbar hinter ihm dudelte Sechzigerjahre-Musik aus den Lautsprechern, die hinter Übertöpfen mit hohen Gräsern und Rohrkolben verborgen waren. Eine der lebhaftesten Erinnerungen, die Sebastian an seinen Vater hatte, war seine Leidenschaft für die Beatles, Dusty Springfield und besonders für Bob Dylan – wie er bei seinen Besuchen bei ihm Die Fantastischen Vier -Comics gelesen und dabei »Lay Lady Lay« gehört hatte.
Sebastian verdrückte den Camembert auf dünnen Kräckern und schob noch ein paar gefüllte Champignons nach. Er hob
den Blick zu den Gästen, die sich inmitten brennender Fackeln und Kerzen, die in diversen Springbrunnen dümpelten, auf dem Rasen tummelten. Sein Blick schweifte zu dem Grüppchen, das in der Nähe eines Nymphen-Springbrunnens stand, und landete erneut auf einer ganz speziellen Brünetten. Clare trug ihr glattes Haar heute gelockt, und die untergehende Sonne fing sich in den großzügigen Wellen und streichelte ihr Profil. Sie trug ein enges blaues Kleid mit winzigen weißen Blümchen, das bis knapp übers Knie reichte. Die dünnen Träger des Kleides sahen aus wie BH-Träger, und ein weißes Band umfasste ihre Taille und war unter ihren Brüsten zusammengeschnürt.
Vorhin, vor der Ankunft der Gäste, hatte er dem Partyservice beim Aufbauen zugesehen, während Clare und Joyce Leos Schnitzfiguren dekorativ auf den Tischen und in den Rohrkolben verteilt hatten. Roland hatte recht. Die Wingate-Frauen sorgten gut für seinen Vater. Ihn plagten Gewissensbisse. Aber was er zu Roland gesagt hatte, stimmte ebenfalls. Der Highway war in beide Richtungen befahrbar, und bis vor einer Woche hatte er sich nie die Mühe gemacht, seinen Vater zu besuchen. Sie hatten ihre Beziehung vernachlässigt, bis kaum noch etwas davon übrig war, und ob es nun die Schuld seines alten Herrn war oder seine, schien keine Rolle mehr zu spielen.
Der Angelausflug war ein Riesenspaß gewesen, und Sebastian hatte zum ersten Mal leisen Optimismus verspürt. Wenn jetzt keiner von ihnen Mist baute, hätten sie vielleicht tatsächlich so was wie ein Grundgerüst, auf dem sie weiter aufbauen konnten. Seltsam, dass er noch vor wenigen Monaten seinem Vater gegenüber eine Scheißegal-Einstellung gehabt hatte. Doch das war, bevor er in der Leichenhalle gestanden und eine Urne für seine Mutter ausgesucht hatte. Jener Tag hatte seine
Welt erschüttert, sie um hundertachtzig Grad gedreht und ihn verändert, ob er nun wollte oder nicht. Jetzt wollte er seinen alten Herrn kennenlernen, bevor es zu spät war. Bevor er noch einmal die Entscheidung zwischen Kirschholz und Bronze treffen musste. Crêpe oder Samt. Sarg oder Urne.
Er verdrückte auch die restlichen Horsd’œvres und warf den Teller in den Abfall. Oder, in Anbetracht seines Jobs, bevor sein Vater Vorbereitungen für ihn treffen musste. Er selbst wollte lieber verbrannt werden als begraben, und seine Asche sollte lieber verstreut als in einem Kolumbarium oder irgendwo auf einem Kaminsims aufbewahrt werden. Im Laufe seines Lebens war schon oft auf ihn geschossen worden, er war Storys nachgejagt und selbst gejagt worden. Was seine eigene Sterblichkeit betraf, machte er sich keinerlei Illusionen.
Mit diesen Gedanken bestellte er sich an der Bar einen Scotch auf Eis und machte sich auf die Suche nach seinem Vater. Als er für seinen Spontantrip nach
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