Frisch verliebt - Mallery, S: Frisch verliebt
der Nacht, als meine Mutter starb, habe ich gespielt, weil niemand da war, der mir gesagt hätte, dass es in Ordnung war zu trauern.“
Sie schob den Stuhl unter den Tisch. „Damals hatte unser Vater offensichtlich ein längeres Gespräch mit meiner Managerin, und zusammen sind sie dann zu dem Schluss gekommen, dass ich reif genug sei, allein weiterzumachen, ohne Betreuerin oder Beschützer. Richtig. Ich war sechzehn, hatte gerade meine Mutter verloren und sie erklärten mich für erwachsen. Meine Aufgabe war es, den Regeln zu folgen, und das habe ich getan, denn die Regeln waren alles, was ich hatte. Ich erwarte nicht, dass du irgendetwas davon verstehst. Gott sei davor, dass du die Dinge einmal aus einer anderen Perspektive sehen könntest als deiner eigenen. Berühmt zu sein – was ich nebenbei bemerkt gar nicht bin – ist viel weniger interessant, als du glaubst. Und ich vermute mal, dass es auch richtig ermüdend sein dürfte, das professionelle Opfer zu sein.“
Damit drehte sie sich um und verließ die Küche. Sie war froh, dass sie es den ganzen Weg bis in ihr Schlafzimmer schaffte, bevor sie den Tränen freien Lauf ließ und wie ein Häuflein Schmerz und Elend auf dem Boden zusammensank. Sie zog die Knie an die Brust wie immer, wenn sie versuchte, sich zu beruhigen. Nach Hause zu kommen hatte gar nichts bewirkt. Noch immer war sie ziemlich allein.
Ihr Mitleidstrip dauerte ungefähr zehn Minuten. Dann stand sie auf und ging ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen.
„Du wusstest doch, dass es nicht leicht sein würde“, sagte sie ihrem Spiegelbild. „Willst du jetzt einfach aufgeben?“
Sie hielt sich vor, dass sie noch nie schnell aufgegeben hatte und dass es im Leben Schlimmeres gab als einen Streit mit der Schwester. Was machte es schon, wenn sie mit der Vorstellung nach Seattle gekommen war, dass ihre Familie ihre Rückkehr begeistert erwartete? Es würde nur etwas mehr Arbeit bedeuten, das war alles. Und harte Arbeit – darin war sie gut.
Sie ging zum Schrank hinüber, in den sie ihre Kleider gepackt hatte, und öffnete die oberste Schublade. Unter ihren BHs und Slips lag ein kleines Tagebuch. Sie war nicht der Typ, der ein Tagebuch führte, aber sie führte Listen über ihre Ziele und diese las sie jeden Tag. Das half ihr, fokussiert zu bleiben. Ihre aktuelle Liste enthielt die Punkte: Kontakt mit der Familie aufnehmen, Sex haben, sich verlieben, normal werden.
Letzteres würde wohl das Schwierigste sein. Aber vielleicht galt das ja auch für alle anderen Punkte. Sex haben? Wem um Himmels willen wollte sie denn etwas vormachen? Immerhin hatte sie es geschafft, achtundzwanzig Jahre alt zu werden, ohne dass sich ein einziger Mann dafür interessiert hätte, sie einmal nackt zu sehen.
Sie sank aufs Bett. Nicht, dass sie keinen Sex gewollt hätte. Sie wollte es. Freunde hatte sie auch schon gehabt, aber die Zeit und die Entfernung waren immer ein Problem gewesen. Nie hatte sie sich irgendwo lange genug aufgehalten, um eine wirklich enge Beziehung aufbauen zu können. Und sie hatte keine Lust auf ein sexuelles Abenteuer mit einem der Kerle aus dem Orchester. Entweder waren sie verheiratet, völlig unattraktiv oder schwul. Sie hatte sich gewünscht, dass es beim ersten Mal jemand Besonderes sein müsse. Wenn sie allerdings gewusst hätte, wie lange es dauern würde, diesen einen Typen zu finden, wäre sie wohl doch ein ganzes Stück weniger wählerisch gewesen.
Als sie das Buch zuklappte, dachte sie an Wyatt. Er schien ihr eine gute Wahl zu sein. Sie mochte ihn und es gefiel ihr, wie er sich um Menschen kümmerte. Im Umgang mit seiner Tochter war er ganz erstaunlich und für Nicole war er ein guter Freund. Leider war sie sich nicht sicher, ob er sie besonders mochte. Das könnte ein Problem sein. Aber ließ er sie nicht auf Amy aufpassen? Vielleicht mochte er sie ja doch ein wenig?
Zu viele Fragen, auf die sie keine ausreichenden Antworten hatte.
Sie erhob sich und lief im Zimmer auf und ab, was allerdings wenig befriedigend war. Nach ein paar Sekunden öffnete sie die Tür und ging die Treppe hinunter. Nicole, die noch immer in der Küche saß, ignorierend, stieg sie die zweite Treppe in den Keller hinab und zog die Tür hinter sich zu.
Der Übungsraum war unverändert, und in der Mitte stand das Klavier. Vielleicht hatte sie es ja stimmen lassen, weil sie geahnt hatte, dass sie an diesen Punkt kommen würde.
Sie hatte das Bedürfnis zu spielen. Eine Zeit lang war es ihr gelungen, diese
Weitere Kostenlose Bücher