Frisch verlobt
den Tränen. Sie liebte Jesse, hatte aber das Gefühl, dass sie ihr niemals verzeihen könnte. Dabei ging es eigentlich weniger um das, was Jesse getan hatte, als darum, dass es ihr anscheinend völlig gleichgültig war. Wie es aussah, war es ihr einfach egal, wen sie damit verletzt hatte.
Und nun war Jesse schwanger. Nicole hatte noch immer ein Problem damit, dass ihre kleine Schwester ein Baby haben würde. Konnte das etwas ändern? Sollte sie Jesse nun nicht nach Hause zurückholen?
Alles in ihr schrie „Nein“. Jesse musste erwachsen werden und lernen, Verantwortung zu übernehmen. Ein Baby war da vielleicht der beste Weg. Nur, war es jetzt Sorge oder Verrat, wenn sie so dachte?
„Es reicht“, sagte Nicole und stand auf. Lange genug hatte sie der Vergangenheit nachgetrauert und sich über Dinge den Kopf zerbrochen, die sie nicht ändern konnte. Heute würde sie bestimmt keine Lösung finden, und sie hatte noch Zeit, weiter darüber nachzudenken.
Sie trat auf den Flur und ging zu ihrem Zimmer. Von unten erreichte sie über die Treppe hinweg eine Lachsalve. Das klingt gut, dachte sie und merkte, wie ihre Stimmung sich aufhellte. In einem Haus sollte es immer Gelächter geben.
Nachdem die Haustür zum achten Mal zugeschlagen war, begab Nicole sich nach unten. Sie machte sich darauf gefasst, im Wohnzimmer eine Katastrophe vorzufinden, aber es war erstaunlich aufgeräumt. Der Teppich müsste zwar gesaugt werden, aber ansonsten waren alle Verpackungen, Dosen und sonstiger Müll verschwunden.
Regelrecht beeindruckend, dachte sie und ging in Richtung Küche, bereit sich bei Raoul zu bedanken. Er erwies sich ja schon geradezu als …
Abrupt blieb sie stehen, als sie sah, wie Raoul ein Stück gekochte Hühnerbrust in eine Butterbrottüte stopfte und diese anschließend in seine Jeanstasche schob.
Erst einmal war sie nur völlig verblüfft. Zu essen gab es schließlich reichlich, und er musste sich gewiss nichts für später aufheben. Schon gar nicht etwas, das besser im Kühlschrank aufbewahrt wurde. Aber vielleicht ging es ja gar nicht darum, dass er im Moment nicht genug zu essen bekam. Vielleicht war es ja auch nur ein Zwang, Vorräte anzulegen. Irgendwann hatte sie einmal einen Artikel über hungernde Kinder gelesen, und wie sie sich auch nach ihrer Rettung noch immer darum Sorgen machten, nicht genug zu essen zu bekommen. Sollte das tatsächlich sein Problem sein, dann würde sie sich wohl um einen Psychologen bemühen müssen, denn das war etwas, wobei sie ihm nicht helfen konnte.
„Raoul?“ Sie sprach ganz leise, um ihn nicht zu erschrecken.
Aber so, wie er daraufhin herumwirbelte, einen deutlich schuldbewussten Ausdruck im Gesicht, war ihr augenblicklich klar, dass es ihm nicht darum ging, für spätere Hungerattacken vorzusorgen.
„Was ist los?“, fragte sie nachdrücklich.
„Nichts.“
„Du hast Hühnerfleisch in der Hosentasche. Das ist nicht Nichts. Was soll das?“ Sie suchte nach irgendeiner Erklärung und wünschte gleich darauf, sie hätte es lieber nicht getan. „Da ist noch ein Kind, stimmt’s?“
Im Stillen fluchte sie. Ein praktisch ausgewachsener, dem Gesetz nach erwachsener Teenager war eine Sache, aber noch ein Kind? In ihrem Haus gab es einfach nicht genug Platz, es sei denn, sie würde Jesses Zimmer freimachen. Aber sie war sich keineswegs sicher, ob sie dazu bereit wäre, trotz allem, was vorgefallen war.
„Nein“, sagte er schnell. „Das ist es nicht.“
„Was ist es dann?“ Wozu brauchte er dieses Fleisch?
Verlegen trat er von einem Bein aufs andere. Nicole beschloss, ihre Karte als ungehaltene Erwachsene auszuspielen, stemmte die Hände in die Hüften und sagte: „Ich warte.“
Er ließ den Kopf hängen. „Da ist diese Hündin. Eine Streunerin. Ich habe sie gefüttert.“
Nicole war nicht einmal überrascht. Ein Hund. Naturlieh. Schließlich zog sie ja Pflegefälle magnetisch an.
„Ich konnte sie doch nicht einfach verhungern lassen“, fuhr er fort. „Also habe ich sie gefüttert. Normalerweise kaufe ich ja Hundefutter für sie, aber das war aufgebraucht, und ich bin noch nicht dazu gekommen, neues zu kaufen.“ Er zog das Hühnerfleisch aus der Tasche. „Soll ich es wieder zurücklegen?“
Wie bitte? Als würde sie jetzt Ja sagen und diesen armen Hund verhungern lassen!
„Wie groß?“, fragte sie.
„Was?“
„Wie groß ist dieser Hund?“
„Sechs bis sieben Kilo. Sie ist wirklich lieb. Ich habe sie Sheila genannt. In Australien heißt das
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