Frische Spur nach 70 Jahren
„ist im Moment
ziemlich ätzend. Denn die Erwartung hat sich nicht erfüllt. Wir glaubten,
Hildes Einbrecher hätte sich aufgrund der Tagebuch-Lektüre in den modernen
Claus verwandelt und würde jetzt zusammen mit einer Tussi den Wahnsinn von
damals nachäffen. Aber Schachner scheidet aus. Ich glaube ihm, dass er die
Tagebücher nie gesehen hat. Deshalb müssen wir unseren Scharfblick in eine
andere Richtung lenken.“
„Auf Schniele-Rillmann“, rief
Klößchen. Er fuhr wie immer ganz hinten. „Der ist vom Crime-Sammler-Virus
befallen. Und hat wahrscheinlich 40 Grad Fieber im Gemüt. Ich will damit sagen:
Der sammelt nicht nur. Der fühlt sich zu mehr berufen. Der will B & C
sein. Vielleicht hat er ‘ne Braut an der Seite, die genau so spinnt. Und schon
sind die beiden auf der falschen Schiene. Kennt man doch von diesen
müßiggängerischen, reichen Erben, die nichts Normales mehr kitzelt, weil sie
bis zum Hals in der Kohle stecken, keine Energie verbrauchen durch Arbeit und
sowie falsch erzogen sind. Wahrscheinlich kann ich ihn beim ersten Anblick
identifizieren, total wieder erkennen. Und wehe, der hat meine 900 Mark nicht
mehr!“
Tim sagte nichts.
Karl pflichtete Klößchen bei.
„Was damals vor 70 Jahren gelaufen ist, könnte Wolfhard aus den Zeitungen
erfahren haben. Nicht aus denen, die ich im Archiv durchgesehen habe. Aber
vielleicht sind ihm andere zugänglich, die genauer und ausführlicher berichtet
haben.“
„Schön und gut“, meinte Gaby,
die dicht hinter Tim radelte. „Aber bis jetzt haben wir keine Erklärung für das
Verschwinden von Album und Tagebüchern.“
„Hilde ist 80“, rief Klößchen.
„Da darf man schon mal ein bisschen schusselig sein. Wahrscheinlich hat sie
diese einmalige Dokumentation verlegt. Hoffentlich nicht aus Versehen
weggeworfen.“
„Hilde ist nicht halb so
schusselig wie du“, konterte Karl. „Deine Vermutung kannst du dir abschminken.“
Gaby beschleunigte etwas und
rückte auf neben Tim, auf dessen rechte Seite. Hier konnten sie nebeneinander
fahren. Die Niederzoller Allee im Stadtteil Niederzoll-Grafried war breit und
schnarchruhig. Außer von TKKG wurde sie im Moment nur von einer prächtigen
Siamkatze benutzt, die weit vorn von links nach rechts hinüber schnürte.
Ansonsten: große abgeschirmte Grundstücke zu beiden Seiten, geschlossene
Einfahrten, elektronisch gesicherte Tore, geweißelte Mauern, schmiedeeiserne
Zäune, dschungeldichte Hecken und — mit Abstand zur Straße — die Dächer der
prächtigen Villen.
Wie Wohnsitze von Drogenbaronen
oder Steuerflüchtlingen, dachte Tim. Schniele-Rillmann ist in guter
Gesellschaft.
„Tim!“, sagte Gaby. „Was denkst
du — über den Verbleib der Tagebücher?“
„Ich muss schon eine ganze
Weile an Hildes Enkel denken.“
„Interessant! Ich nämlich
auch.“
„Hat dich sein flüchtiger
Anblick beeindruckt?“ Tim grinste.
„Na und wie! Ich habe jetzt
noch weiche Knie und werde heute Nacht von Klaus träumen.“ Gaby kicherte.
„Endlich habe ich meinen Traumtyp. Aber mal ernsthaft! Was denkst du?“
„Wenn er nicht so ein Weichei
wäre, könnte man sonst was vermuten.“
„Aber er ist ein Weichei“, warf
Karl ein. „Damals jedenfalls war er’s. Und Tante Hilde ist immer noch
unglücklich über seine Laschheit. Das weiß ich.“
„Vielleicht hat er“, sagte
Gaby, „Tagebücher und Album gestohlen — seiner Oma gestohlen und verkauft. Zum
Beispiel an... nein, an Schniele-Rillmann nicht. Denn dann“, setzte sie zögernd
hinzu, „brauchte der keinen Einbrecher loszuschicken.“
Tim nickte. „Trotzdem —
Kläuschen hat diese einmalige Dokumentation. Es kann gar nicht anders sein. Und
jetzt fällt mir wieder ein, wie perplex der aus der Wäsche guckte, als er zu
uns guckte. Vielleicht hat ihn Klößchens Anblick innerlich aus den Socken
gekippt.“
„Was ist denn an meinem Anblick
so entsetzlich?“, rief Klößchen.
„Eigentlich nur das
Missverhältnis zwischen Höhe und Breite“, grinste Tim. „Aber wie nun, wenn
Klaus Nocke total gebügelt war, weil sein letztes Opfer, dem er gerade 900 Mark
geraubt hat, bei seiner Adresse antanzt — sogar mit Verstärkung, nämlich mit
Gaby, Karl und mir.“
„Willst du damit sagen“, rief
Klößchen, „dass Klaus Nocke, der sich mit K schreibt, dem Claus Lohwinkel von
damals, der sich mit C schrieb, nachahmt? Dass er nach 70 Jahren — als
vorläufig letzter Nachfahre seiner berüchtigten Oma-Schwester und deren Elch —
eine
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