Frischluftkur: Roman (German Edition)
spontane, unverkrampfte Gefühlsäußerung, dass Hedi ihr einen erstaunten Blick zuwirft. So kennt sie ihre Schwiegertochter ja gar nicht. Aber hier, bei Du & Deine Welt, ist wohl alles etwas anders als im Dorf.
Neue Hostessen eilen zu Hilfe, die Damen stehen geduldig Schlange und ziehen dann, einheitlich erdgepudert, weiter. »Bitte, schön zusammenbleiben«, fleht die Ortsvertrauensfrau und reckt das Spinnenschild in die Höhe, doch die Gruppe zerstreut sich vor ihren Augen. Nicht, dass die Landfrauen sich ganz alleine in das Messegeschehen wagen würden, sie bleiben immer zu mindestens viert zusammen. Aber die Interessen sind einfach zu verschieden.
Die Älteren zieht es zur Kreativ-Insel. Dort bekleben sie unter Anleitung kleine Holzhocker mit Dekor-Patschies. »Das sieht ja aus wie in Fetzen gerissenes Geschenkpapier«, bemerkt Wilma zunächst noch scharfsinnig und hat damit wahrscheinlich sogar Recht. Doch nach einem Vortrag der geschulten Verkäuferin über Optik und Haptik und Entfaltungsmöglichkeiten und Formschönheit und Farbenlehre lässt auch sie »ihrer Kreativität freien Lauf« und kleistert begeistert die zerrupften Papierzettel (»Hochwertiges Material mit niedriger Grammatur und hoher Reißbeständigkeit!«) ein. »Dekor-Patschies lassen sich so glatt auftragen, dass man sie beim ersten Hinsehen für Malerei hält!«, schwärmt die Verkäuferin.
»Ach, wenn ich doch nur malen könnte«, sagt Wilma, die ihre künstlerische Ader bislang völlig ignoriert hat, und klebt weiter so viele Schichten übereinander, dass die ursprüngliche Form des kleinen Hockers nur noch schwer zu erkennen ist. Wenn sie die Sache mit Kalk erst einmal in trockene Tücher gebracht hat, wird sie sich mal die schäbige Küchenbank vornehmen, die im Carport vor sich hin modert. Vor lauter Eifer und Inspiration entgeht ihr, dass sich die Damen des Häkelkränzchens am Stand einer Naturschutzorganisation über gefährdete Tier- und Pflanzenarten in Norddeutschland informieren.
Die zunehmend enthemmte Hanna hat inzwischen Tina, Petra und Marlies zu einem Stand gezogen, an dem ein attraktiver junger Mann, der ein wenig aussieht wie Keanu Reeves in Matrix , Latexputztücher anpreist. Seine Vorführung ist faszinierend: Hingebungsvoll beschmiert er einen großen Kristallspiegel mit Creme, Olivenöl und Schokosoße. Hanna windet sich schon bei diesem Anblick. Dann taucht er eines der grellgrünen Latextücher – Hunderte davon umgeben ihn wie einen Heiligenschein, festgetackert am Messestand – in eine Wasserschüssel, wringt es kurz aus und wischt über den verunreinigten Spiegel, worauf dieser in prachtvollem Glanz erstrahlt. Tina korrigiert nach einem Blick dorthinein kurz ihre Frisur, während Hanna sich nicht entscheiden kann, ob sie vor Begeisterung applaudieren oder in Ohnmacht fallen soll. So muss sich ihre Mutter beim Beatles-Konzert gefühlt haben, als George ihre Hand nahm und küsste ... Ja, das ist wohl ein vergleichbares Gefühl.
»Die Latexmembran mit Kapillarwirkung trocknet streifenfrei!«, erklärt der Keanu Reeves der Putztücher.
»Ich stelle ihn mir gerade mit einem kleinen Latexputztuchschurz bekleidet vor«, sagt Tina und stöhnt leise. Hanna kichert, Marlies bleibt lieber stumm.
Petra guckt auf die Uhr. »Unsere Verabredung! Wir müssen zum Stand von Edith.« Hanna und Tina sind wie in Trance. Hanna kauft noch schnell ein Putztuch, und Tina fährt sich mit der Zunge über die Lippen, während sie mit den Händen ihre Haare hebt und ihren Hals entblößt. Sie hat in einem Verführungsratgeber gelesen, dass das unwiderstehlich wirkt. Der Latexmann reagiert nicht. Wahrscheinlich könnte sie noch Stunden so dastehen (bei manchen Männern sind die Reaktionszeiten einfach länger, das muss man eben einkalkulieren), wenn ihre Freundinnen sie nicht wegzerren würden.
Die vier kämpfen sich durch die Hallen, mitten durch die kunstnebelverstärkte Bergungsaktion im Trümmerhaus, Teil der Show SOS – Lebensretter im Einsatz. »Ich will Mund-zu-Mund-beatmet werden«, keucht Tina, aber die anderen ziehen sie weiter.
Den Fresh&Clean -Stand finden sie in Halle 12, Küche & Haushalt. An einer Edelstahlspüle steht eine Frau mit Kopftuch und wienert. Die eine Hälfte der Spüle glänzt und funkelt, dass man meint, bei ihrem Anblick blind zu werden. Die andere Hälfte sieht ziemlich versifft aus. Das erinnert Petra an die Putzparty in ihrer Küche – und daran, dass sie die von Edith nicht geputzten Flächen trotz
Weitere Kostenlose Bücher