Frischluftkur: Roman (German Edition)
Marlies kennt.
Außerdem gibt es auf dem Schützenfest ein Karussell. Letztes Jahr war es leider ein Kettenkarussell, da hat Marlies sich nicht reingetraut, wegen ihrer Flugangst. Aber im Jahr davor gab es einen Autoskooter, da war Marlies ganz große Klasse, das hat ihr richtig Spaß gemacht. Immer schön andotzen – es hat ihr ein bisschen leidgetan, dass Monique sich bei einer Kollision einen halben Schneidezahn ausgeschlagen hat, aber die hätte ja wirklich rechtzeitig ausweichen können. Beim Autoskooter ist Marlies erbarmungslos, da gibt sie nicht nach.
»In diesem Jahr gibt es eine Raupenbahn!«, sagt Evelyn. »So richtig mit Verdeck zu und allem – ganz nostalgisch!«
Raupenbahn , denkt Marlies, wie früher, als sie noch klein war, also so vierzehn, fünfzehn. Ihre Mutter hat ihr zwar immer gesagt, dass ihr darin bestimmt schlecht werden würde und dass sie deshalb lieber nicht mitfahren sollte, aber sie hat es trotzdem gemacht. Ganz rebellisch hat sie sich gefühlt, obwohl ihr immer ein bisschen mulmig wurde, wenn das Verdeck zuging. Von dem Auf und Ab und Immer-in-der-Runde-Rumfahren wurde ihr tatsächlich ein wenig übel, einmal hat sie sogar nach der Fahrt ins Gebüsch gekotzt, aber das lag vielleicht auch an den vier Portionen Zuckerwatte, die sie vorher gegessen hatte. Eine Raupenbahn also. Wie damals, als sie heimlich für Bernd geschwärmt hat, so heimlich, dass sie es selbst fast nicht bemerkt hätte. Und Bernd sowieso nicht, der recht schnell dem offensichtlicheren Charme von Monique erlag. Hat aber nicht lange gehalten.
Ja , denkt Marlies, ich werde heute Abend zum Schützenfest gehen. Das soll in diesem Jahr sowieso die Sensation werden, größer noch als das traditionelle Top-Ereignis Feuerwehrball. Die Schützen haben sich wirklich angestrengt, zwei Tanzkapellen angeheuert und ein doppelt so großes Festzelt aufgebaut. Es soll auch zwei Fischbuden, zwei Würstchenbuden, eine Gyrosbude und sogar drei Bierstände geben. Da wird richtig was aufgefahren! Zum Tanzen muss sie ja nicht gehen, denkt Marlies, das ist immer so demütigend, wenn keiner sie auffordert. Aber ein wenig Raupenbahn fahren, das muss sein.
Zuhause zieht Marlies ihr rotes Kleid mit den großen weißen Punkten an. Darin fühlt sie sich immer so italienisch. Und sie findet auch, dass sie damit recht hübsch aussieht. Sie muss nur darauf achten, dass sie den Mund schließt. Der steht meistens ein wenig erstaunt offen, weil sie sich über die Welt wundert oder in Tagträume versunken ist und ihre Außenwirkung dabei völlig vergisst. Vielleicht ist auch der Unterkiefer zu schwer für ihre untrainierten Gesichtsmuskeln? Aber heute wird sie die Lippen aneinander heften, etwas klebriges Lipgloss wird ihr dabei helfen.
Hanna ruft an. »Marlies, du kommst doch heute Abend zum Schützenfest!«, sagt sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. »Wir müssen zusammenhalten!«
»Ja«, antwortet Marlies, und Hanna, die mit Gegenwehr gerechnet hat, ist so baff, dass sie erst mal gar nichts sagt. »Ja, gut, also ... bis nachher. Wir sind um acht im Festzelt, der Tisch vorne rechts ist für uns reserviert.«
»Okay«, sagt Marlies.
»Ja, gut«, sagt Hanna noch mal, »bis gleich«, und dann legt sie auf.
»Kind, wo willst du denn so aufgetakelt hin?«, fragt ihre Mutter entsetzt, als Marlies am Wohnzimmerfenster vorbeigeht. Marlies muss immer am Wohnzimmerfenster vorbei, denn sie bewohnt den alten Hühnerstall. Vor drei Jahren hat Marlies nämlich zu ihren Eltern gesagt: »Ich ziehe aus!« Überraschenderweise waren die ganz begeistert und versprachen, sie dabei nach allen Kräften zu unterstützen. Ihre Mutter hat dann sofort die Mutter vom Zimmermann angerufen, und der hat am nächsten Tag mit dem Umbau des alten Hühnerstalles begonnen. Das war zwar nicht ganz das, was Marlies sich vorgestellt hat, aber was sollte sie dagegen sagen, sie wollte ja nicht undankbar sein. Der einzige Weg zum Hühnerstall führt direkt am Wohnzimmerfenster vorbei, so entgeht den Eltern nie, wann ihre Tochter kommt oder geht. Erst recht nicht, seit sie die große Panoramascheibe eingebaut und einen Durchbruch zur Küche gemacht haben.
»Zum Schützenfest«, entgegnet Marlies und denkt gleichzeitig: Oh Gott, vielleicht habe ich doch etwas zu dick aufgetragen? Vielleicht ist das Kleid wirklich unpassend? Auch mit achtundzwanzig ist sie noch recht unsicher in modischen Dingen.
»Na, wenn du meinst«, sagt die Mutter mit diesem
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