Frischluftkur: Roman (German Edition)
Lass-mich-arme-alte-Frau-nur-allein-zuhause -Unterton, obwohl der völlig unangebracht ist, denn immerhin ist ihr Mann da und hält die Stellung auf dem Sofa. »Aber fahr bloß nicht wieder Karussell, Kind, da wird dir immer schlecht von!«
Jaja, denkt Marlies, sagt aber nichts. Sie geht doch extra zum Karussellfahren dorthin. Weswegen denn sonst? Um sich von den Schützen taxieren zu lassen wie Freiwild? Schweigend neben ihren Freundinnen zu sitzen? Nein, sie will Spaß haben, ganz für sich alleine. Das gelingt ihr eh am besten. Karussellfahren gibt ihr ein Gefühl von Freiheit, so wie nichts anderes sonst. Niemand stört sie dabei, sie dreht sich um die Welt und hat dabei das Gefühl, die Welt würde sich um sie drehen. Sie weiß gar nicht, was ihre Mutter hat. Karussellfahren ist ja auch viel billiger als eine Karibikkreuzfahrt.
Und insgeheim hegt sie das winzige Hoffnungsfünkchen, den Mann aus dem Supermarkt wiederzusehen. Nur sehen, das würde ihr schon reichen. An eine Unterhaltung wagt sie gar nicht zu denken, sie würde ja eh kein Wort herausbekommen. Wenn sie nun in einem Land wäre, am Mittelmeer zum Beispiel, wo die Nächte lau sind und die Luft flirrt, ja, da wäre es vielleicht etwas anderes, da wäre sie vielleicht lockerer. Aber hier? Hier ist eben alles so wie es ist. Auch Marlies.
Sie kann die Musik vom Festplatz schon von weitem hören. Smalltown Boy , ein Song aus den Achtzigern. »Run away, turn away, run away ...«, singt eine hohe Männerstimme. Sie kann sich noch vage an den Videoclip erinnern. Ein Junge, der seine Sachen packt und einfach von zuhause abhaut. Mit der Bahn. Sie hat nicht so ganz verstanden, warum, in Englisch war sie immer schlecht. Aber sie hat seine Sehnsucht verstanden. Er wollte woanders hin – und sie auch. Er hat sich getraut, sie nicht. Aber das war ein Videoclip und nicht die Realität, in Wirklichkeit ist der natürlich nicht davongelaufen, sondern hat einen Batzen Geld dafür bekommen, dass er mit seiner Tasche am Bahnhof herumstand.
Hier gibt es keinen Bahnhof. Marlies hätte gerne mal vor den Anzeigentafeln gestanden, die klackernd und ratternd ständig neue Traumziele ankündigen: Paris, Basel, Warschau. Die Transsibirische Eisenbahn! Der Orient-Express! Aber mitgefahren wäre sie wahrscheinlich nie. Deshalb ist ihr die fast völlige Abwesenheit öffentlicher Transportmittel im Dorf auch nie unangenehm aufgefallen.
Marlies träumt sich ein wenig in den Orient-Express hinein besser gesagt: ihre Idee vom Orient-Express mit brokatbezogenen Sitzen und Dienern in Livree –, als etwas sehr Hartes ihr Knie rammt. Genau genommen ist es andersherum: Sie rammt mit ihrem Knie etwas Hartes. Etwas, das da sonst nicht ist. Marlies kann normalerweise alle Wege im Dorf träumend zurücklegen, ohne sich zu stoßen. Normalerweise steht da, wo sie gerade langgehen wollte, auch kein hölzerner Wohnwagen in der Gegend herum, dessen Deichsel auf Kniehöhe herausragt.
Marlies schreit »Aua« und lässt vor Schreck ihr kleines Handtäschchen fallen.
»Oh, bella Donna!«, ruft der Mann, der auf den Stufen vor dem Wohnwagen gesessen hat, springt auf und reicht ihr die Tasche. Dann sagt er noch ein paar Sätze, in denen Wörter wie »bella« und »amore« vorkommen, während Marlies ihn verdattert anglotzt. Lippen zusammen , denkt sie irgendwann und schließt den Mund.
»Oh, verzeihen Sie, Sie sehen so italienisch aus, deshalb bin ich in meine Muttersprache verfallen«, sagt der Mann, den Marlies jetzt wiedererkennt. »Möchten Sie ein Stück Ananas?« Es ist der Typ aus der Obstabteilung. Der Traummann!
Marlies seufzt und nimmt ein Stück Ananas von dem Teller, den er ihr hinhält. Es ist zu groß, um es ganz in den Mund zu stecken, sie beißt ab, der Saft läuft ihr übers Kinn.
»Grandezza! Mia casa!«, sagt er und tupft mit dem Daumen zärtlich die Fruchtsafttropfen von ihrem Kinn. Wie im Roman , denkt Marlies und erinnert sich an eine Szene aus einem Tiffany-Heft, in der es um Erdbeeren und einen Franzosen ging. Sie seufzt noch mal. Ich bin diesem Mann verfallen , denkt sie, mit Haut und Haaren! Aber was das genau bedeuten soll, ist ihr auch nicht klar.
»Ich muss Sie wiedersehen!«, schmachtet der Mann. Ja , denkt Marlies, gute Idee. Ob sie ihm das sagen sollte? Aber wie?
»Ich heiße Rocco. Und Sie, Sie sind wunderschön. Ein Augenstern! Wie ist Ihr Name?«
Marlies sagt nichts.
»Ach, sie wollen ihn mir nicht verraten, meine geheimnisvolle Schönheit? Dann werde ich
Weitere Kostenlose Bücher