Frischluftkur: Roman (German Edition)
blickdicht, die andere Netz – eigenhändig zerrissen. Auf das Gesamtergebnis ist sie eigentlich ziemlich stolz. Aber eben auch nur eigentlich.
Helga weiß, dass sie mit diesem Outfit im Dorf auffällt. Sie behauptet natürlich immer, das sei Ausdruck ihrer Persönlichkeit, ihrer Identität. In Wirklichkeit ist sie sich damit nicht so sicher. Sie gehört irgendwie nicht dazu, egal, wie sie sich anzieht. Sie hat es probiert: Nette Pastellfarben, bauchfrei, sogar eine Dauerwelle hat sie sich mal – auf Anraten ihrer Mutter – in Moniques Salon Scharfe Schere verpassen lassen. Danach kam sie sich vor wie eine als lächerliches Schaf verkleidete Ziege. Falsch. Und die Klamotten waren ihr alle zu eng, saßen nicht richtig. Ein Gefühl, das sich auf ihr ganzes Leben übertragen lässt: Es passt nicht. Sie hat alles versucht, um dazuzugehören, sich einzufügen, aber es hat nicht funktioniert. Deshalb grenzt sie sich jetzt ab. Wenn schon Schaf, dann eben das schwarze.
Christiane ist ihre einzige Freundin. Das reicht. Mehr braucht Hell nicht. Die anderen können ihr gestohlen bleiben. Manchmal träumt sie von einer Welt, in der alle so angezogen sind wie sie und alle die Musik hören, die sie mag. Im ersten Moment findet sie das cool, doch dann bekommt sie Angst. Wie langweilig das wäre! Sie wäre gar nichts Besonderes mehr. Helga hat sich so daran gewöhnt, aufzufallen, auch unangenehm, dass sie darauf nicht mehr verzichten möchte.
»Findest du, dass mir der Style steht?«, fragt Helga.
»Aber derbe! Der Look bringt dein Innerstes krass zum Leuchten!«, antwortet die Freundin. Helga lächelt geschmeichelt. Zwar ist sie sich nicht so sicher, ob es gut ist, wenn ihr Innerstes leuchtet, aber sie weiß, dass Christiane das nett gemeint hat.
»Du siehst auch verschärft aus«, gibt sie das Kompliment zurück. Christiane ist äußerlich das komplette Gegenteil von Helga: Seidige blonde Haare, die ihr puppenhaftes Gesicht sanft umfließen. Ebenmäßige Haut ohne auch nur die Andeutung einer Pore. Ein zartes, helles Kleid mit Spaghettiträgern, knielang, das ihre perfekte Figur betont. Feine Riemchensandaletten. Jede Mutter hätte sich gewünscht, dass ihre Tochter ein wenig wie Christiane aussieht.
Die Freundinnen sind ein sehr ungleiches Gespann, aber auf dem Land hat man nicht so viel Auswahl. Außerdem hat die unterschiedliche Optik auch Vorteile: Wenn es um Jungs geht, kommen sich Helga und Christiane nie ins Gehege. Die Typen können sich ganz leicht zwischen den beiden Freundinnen entscheiden. Fast immer entscheiden sie sich für Christiane. Aber das nimmt Helga ihr nicht übel, schließlich kann Christiane nichts dafür.
Im Radio läuft Shakira, Underneath your clothes. Die Mädchen singen mit. Christiane, weil sie den Song toll findet. Helga, weil ihr das einfach Spaß macht. Es ist egal, dass sie eine CD von Shakira nicht mal mit einer Pinzette anfassen würde – solange Christiane dabei ist, nimmt sie Abstand von ihrem kultivierten Dark-Wave-Musikgeschmack. Man muss ja nicht dogmatisch sein. Manchmal ist Helga auch gerne einfach nur albern. Und natürlich guckt sie Top of the Pops und weiß genau, was in den Charts ist und war. Und das ist eben nicht nur Depeche Mode und Tokio Hotel. Feindbeobachtung nennt sie das, um sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Aber wenn sie ehrlich ist, muss sie sich eingestehen, dass ihr sogar die dämlichsten Songs Vergnügen bereiten.
»Shakira hat Recht: Letztendlich kommt es darauf an, was unter den Klamotten ist«, kichert Christiane. Sie biegt bei Knurres Kramerlädchen rechts auf die schnurgerade Landstraße ab, die zur Disco ins übernächste Dorf führt, ins Paradise Island . Niemand nennt den Laden so, bekannt ist die Disco seit Generationen als Schädel, weil die harten Getränke dort sehr preisgünstig sind und es dem Kopf am nächsten Tag entsprechend geht.
»Darauf bin ich bei Marco sehr gespannt«, giggelt Christiane weiter. »Neulich ist ihm mal das T-Shirt ein wenig hochgerutscht. Der hat ein richtiges Sixpack!«
»Und Ritschies Oberarme sehen aus wie Sahneschnittchen!«, fügt Helga hinzu. Ritschie ist ihr neuer Schwarm. Wenn sie nur an seine weichen Lippen denkt (sie glaubt, dass sie weich sind, denn sie sehen so aus, berührt hat sie seinen Mund leider noch nie) und den hauchfeinen Bartansatz, der kurz darüber beginnt, muss sie schon seufzen. Diese mittelblonden Haare ... okay, den Seitenscheitel könnte man ändern, aber dieser Pony, der ihm so lässig
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