Frischluftkur: Roman (German Edition)
Jahr davon übrig geblieben ist.
Helga und Christiane sind früh dran, es ist erst halb zehn, aber der gigantische Parkplatz ist schon gut gefüllt. Ein Opel neben dem nächsten. Entweder Muttis Zweitwagen oder der erste eigene – Muttis abgelegter Zweitwagen. Bescheiden die Corsas, schnittig die Tigras, protzig der einzige Speedster. Dazwischen hin und wieder ein dicker Mercedes oder BMW: Papas Firmenwagen.
Fünf Euro Eintritt inklusive ein Getränkebon. Der Mann an der Kasse stempelt Palmen auf Handrücken. Er benutzt ein frisches Stempelkissen, die Abrücke verschmieren. »Mach das mal ordentlicher!«, mahnt der Chef, der gerade vorbeikommt. »Wir wollen doch die hübschen Deerns hier nicht verschandeln!«
Ausweiskontrolle gibt es keine, ist auch nicht notwendig, der Chef weiß, wer unter sechzehn und wer unter achtzehn ist, und es ist ihm egal, solange die Polizei nicht wieder so eine aufgeblasene Razzia macht und alle Minderjährigen im Feuerwehrhaus einsperrt, bis sie von ihren Eltern abgeholt werden. Vor zwei Jahren gab es so einen unerfreulichen Zwischenfall, der neue Polizeichef wollte sich wohl profilieren. Aber inzwischen ist der auch Stammgast im Paradise Island 2, einem Nebenprojekt des Chefs.
Helga und Christiane gehen hinein. Mit ihren Sandaletten knickt Christiane ein wenig auf dem Kopfsteinpflaster um. Von außen ist der Schädel eine schmucklose Lagerhalle, doch im Eingangsbereich tut er so, als wäre er ein kleines Dorf aus lauter urigen Kneipen und Cocktailbars, die eine baumbestandene, beschauliche Gasse säumen. Die Bäume haben Plastikstämme und leicht angestaubte Textilblätter, aber das Kopfsteinpflaster ist immerhin echt und ein wahrer High-Heels-Killer. Helga und Christiane setzen sich in der ersten der dreiundzwanzig angeblich total individuellen, aber doch sehr ähnlichen Pseudokneipen auf einen Barhocker. Cocktail Flair heißt dieser Abschnitt des Schädels. Von hier hat man eine gute Übersicht über den Eingang. Die Freundinnen trinken Baileys auf Eis und kommentieren die Ankommenden.
»Was will die alte Schachtel denn hier?«, kommentiert Helga den Auftritt einer Frau. »Kommt denn heute kein Musikantenstadl im Fernsehen?«
Christiane kichert. »Die ist doch bestimmt schon über dreißig«, unkt sie.
»Teile von ihr«, gackert Helga zurück.
***
Fluchend flaniert Tina auf Neun-Zentimeter-Stilettos über das Kopfsteinpflaster, in Sorge um ihre empfindlichen Absätze. Sie ist auf der Suche nach Hanna, Petra und Marlies. Im Rahmen der Operation Frischluftkur haben sie sich bis in den Schädel vorgewagt, denn sie vermuten, dass Monique heute hier ein Rendezvous mit ihrem Flexi-Stab-Trainer hat.
Neben ihr gackern zwei Teenagermädchen los. Tina wirft den beiden einen tödlichen Blick zu. Sie hat zwar nicht gehört, was die Backfische gesagt haben, aber sie ahnt, dass das nichts Nettes gewesen sein kann. Tina kennt die Frauen. Und schließlich war sie auch mal jung.
***
»Ach, wo bleibt denn Marco? Vielleicht ist er schon drin? Lass uns doch mal nach hinten gehen«, schlägt Christiane vor.
Hinten, am Ende der Kneipenmeile, sind die Tanzflächen. Es gibt zwei, einen größeren und einen kleineren Disco-Bereich, schalldicht voneinander getrennt, um den unterschiedlichen Musikpräferenzen des Publikums wenigstens ansatzweise gerecht zu werden. Hier auf dem Land hat man sonst nämlich keine Wahl: Es gibt den Schädel, und da geht man eben hin. Die nahe gelegene große Stadt mit ihren Amüsiervierteln scheidet wegen Parkplatzmangel aus. Einzige Nachtleben-Konkurrenz: Feuerwehrbälle und Schützenfeste. Aber die sind eher etwas für Senioren, so ab dreißig. Also treffen die verschiedenen jugendkulturellen Szenen und Stilausprägungen im Schädel aufeinander. Heavy-Metal-Rocker mit Spinnenwebentatoos auf den Ellenbogen und langen, aber frisch gewaschenen Haaren stehen hier neben Möchtegern-Rappern, denen der Schweiß unter den kuscheligen Wollmützen herunterläuft. Es gibt ein paar Rockabillys, Mädchen in Petticoats und mit Pferdeschwanz, unzählige Christina-Aguilera-Kopien, ein paar, die so aussehen möchten wie Paris Hilton, unter den Älteren diverse Nena-Lookalikes (aber nicht ganz so gut in Schuss). Alles, was es mal als Jugendkultur gab, taucht hier wieder auf. Man muss sich ja absetzen und auch irgendwie dazugehören. Das ist gar nicht so leicht. Manche ändern ihren Stil schnell, manche behalten ihn bei, ewig, und altern dann mit ihm. Mit oder ohne Würde.
Über die
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