Frischluftkur: Roman (German Edition)
auf deinem T-Shirt steht Die Heilung. Nutzt dir das etwa was?«
Idiot, denkt Helga und geht weg. Es ist eh zu spät. Die erste Kandidatin tritt nach vorne an den Bühnenrand. Helga kennt sie aus der Schule, das ist Carina. »Shake your balla-balla«, lautet die Aufforderung aus den Lautsprechern. Carina wackelt ein bisschen mit allem hin und her. Sie trägt, wie alle Kandidatinnen, ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift Paradise Island , dazu einen Minirock und High Heels. Helga kann sich nicht vorstellen, wie sie damit über das Kopfsteinpflaster gekommen sind. Aber wahrscheinlich haben sie sich erst hinter der Bühne so zurechtgemacht. Sie sieht aus wie ein Wackeldackel, grollt Helga.
»Wasser marsch!«, befiehlt der Chef.
Die Jungs, alle in einer Reihe gegenüber der ersten Kandidatin aufgestellt, zögern.
»Na los, wird's bald?«
Ritschie nimmt beherzt seinen Eimer ein Stück höher, holt aus, schwingt nach vorne und schickt fünf Liter in den Wet-T-Shirt-Wettbewerb. Er sieht dabei nicht ganz so routiniert, professionell und elegant aus wie Wilma, wenn sie ihr Feudelwasser in den Rinnstein kippt, aber immerhin: Die Ladung erreicht ihr Ziel. Das Mädchen stößt einen schrillen Schrei aus, ihr T-Shirt wird durchsichtig, das Publikum jubelt.
Ritschie hat ein bisschen hoch gezielt, nicht nur das T-Shirt ist durchnässt, auch Frisur und Make-up haben sichtlich gelitten. Carina sieht ein wenig aus wie zu früh aus Rosis Pudelsalon oder Moniques Beauty-Center entflohen.
Ritschie johlt. Das hat Spaß gemacht! Er wundert sich, dass er noch nicht früher auf diese Idee gekommen ist. Das könnte glatt seine liebste Freizeitbeschäftigung werden, noch vor Computer-Baller-Spielen, Haare-mit-Gel-Stylen und Backen. Zumal er Letzteres natürlich niemals in der Öffentlichkeit zugeben oder gar tun würde.
Die anderen Jungs haben jetzt genug Mut gefasst und schütten ihre Eimer ebenfalls über der ersten Kandidatin aus. Der Chef versucht, sie davon abzuhalten, schließlich soll ja auch noch etwas Wasser für die anderen sieben Mädchen übrig bleiben, aber es ist, als wäre ein Damm gebrochen. Der Typ im Jury-T-Shirt holt einen Schlauch und füllt nach, während Kandidatin Nr. 1 noch immer mit ihren am Leib klebenden Klamotten herumwackelt. Wahrscheinlich, um sich aufzuwärmen, das Wasser muss, wie man an ihren Brustwarzen sieht, recht kalt gewesen sein.
Warum nicht ich? Warum nicht ich? Warum nicht ich? , fragt sich Helga in einer Tour. Ritschie kommt richtig in Fahrt, er lacht, es scheint ihm Spaß zu machen. Und diesen Spaß sollten sie doch eigentlich gemeinsam haben! Engagiert übergießt er eine Kandidatin nach der anderen. Helga ist es ein Rätsel, wie nachher die Gewinnerin ermittelt werden soll. Vorher konnte man die Teilnehmerinnen wenigstens noch an der Frisur unterscheiden, doch nachdem diese den Fluten zum Opfer gefallen sind, bleibt kein prägnantes Unterscheidungsmerkmal mehr übrig. Okay, vielleicht noch die Brüste. Aber die sehen sich auch sehr ähnlich, jede Teilnehmerin hat zwei, alle ungefähr Körbchengröße C.
Irgendwann – die angehenden Misses sind alle patschnass und tanzen wie dressierte Kegelrobben durch die Gegend, das Publikum johlt begeistert – holt der Chef eine Schärpe hervor und kündigt an: »Jetzt küren wir mal die Siegerin!« Er weist das Publikum an, bei der Kandidatin, die die beste Vorstellung gegeben hat, am lautesten zu klatschen, zu brüllen, zu pfeifen. Dann hält er die Schärpe probeweise vor jedes der tropfenden Tanzhühnchen. Das Publikum klatscht, pfeift und brüllt enthemmt. Helga wünscht sich weg, am liebsten mit Ritschie auf eine einsame Insel, aber der scheint sich gerade sehr wohl zu fühlen.
»Nummer sechs hat gewonnen!«, verkündet der Chef. Sieben der acht Mädchen lassen die Mundwinkel enttäuscht nach unten fallen, was ihren Gesichtern sofort die letzte Anziehungskraft nimmt. Wahrscheinlich fließen auch ein paar Tränen, das kann man aber wegen der allgemeinen Feuchtigkeit nicht sehen. Kandidatin Nr. 6 dagegen hüpft vor Freude auf und ab, ihre Brüste benehmen sich wie zwei ungezogene Flummis. Dabei klatscht sie ganz schnell in die Hände und verheddert sich deshalb in der Schärpe, die der Chef ihr umhängt. Ritschie eilt zu Hilfe, befreit sie, hängt ihr die Schärpe richtig um (er legt vor allem Wert auf den korrekten Sitz quer über die Brust) und hebt die Siegerin dann hoch, als wollte er sie über die Schwelle des ersten gemeinsamen Hauses
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