Frischluftkur: Roman (German Edition)
tragen. In Ermangelung des Hauses wählt er das Opel-Cabrio, wirft die Frau hinein und schwingt sich dann hinterher.
»He, he, he, so geht das aber nicht!«, grölt der Chef.
Genau, denkt Helga. Das Publikum aber tobt begeistert, vor allem Ritschies Freunde jubeln frenetisch. »Das gehört jetzt alles dir, Ritschie!«, schreien sie.
Ja , denkt Ritschie begeistert, warum kann das Leben denn nicht immer so sein? Er hat es satt, immer allein herumzustehen und für unerreichbar gehalten zu werden. Das mag zwar ein lässiges Image sein, ist ihm aber irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Er ist so cool, dass sich auf dem Schulhof niemand auch nur in seine Nähe wagt. Und dieser schlechtgelaunte Blick, der anfangs Show war, ist inzwischen echt. Seine Laune ist meistens im Keller. Okay, wenn er zuhause heimlich ein neues Rezept für Muffins ausprobiert, dann geht es ihm gut. Dann fühlt er sich glücklich. Aber sonst? Er weiß nicht so recht, was er tun könnte, um dazuzugehören. Mit Fußballspielen hat er es schon probiert, aber er war einfach zu schlecht. Dann ist er auf diesen Rühr-mich-nicht-an-Trip gekommen. Das hat ganz gut funktioniert, ihn aber immer weiter isoliert. Nicht, dass das jemand ahnen würde. Er hat ein paar Kumpels, mit denen er am Wochenende hin und wieder etwas unternimmt. Doch so richtig Stimmung kommt da nur auf, wenn alle getrunken haben. Dann traut sich Ritschie auch mal was – wie jetzt zum Beispiel. Das Gefühl, endlich dazuzugehören, durchflutet ihn wie heißer Rumgrog.
Er ahnt ja nicht, wie teuer man manchmal für sein Glück bezahlen muss.
***
Der Chef macht sich Sorgen um die Sitzpolster des Opels und darüber, was Frau Lüdersen ihm wohl für die Reinigung berechnen wird. Er zerrt die beiden, die vom Drehbuch seiner Veranstaltung abgewichen sind, raus aus dem Wagen, drückt der Gewinnerin einen Blumenstrauß und Ritschie eine Flasche Korn in die Hand und legt beiden seine Arme über die Schulter. Das sieht nett aus, vor allem aber hat er sie fest im Griff. Dann führt er sie ab, runter von der Bühne, an den nächsten Tresen, stellt ihnen noch zwei kleine Gläser für den Korn hin und überlässt sie einander und ihrem Schicksal. Ritschie öffnet die Flasche Korn und schenkt ein.
Helga will zu ihm rennen und ihm sagen, was für ein toller Auftritt das war, aber im letzten Moment verlässt sie der Mut. Christiane wird wissen, was zu tun ist. Christiane kennt sich aus, mit Jungs, mit solchen Situationen und überhaupt. Sie muss Christiane finden!
Helga rennt über das Kopfsteinpflaster, vorbei an Gogo-Girls in Käfigen und unzähligen Cocktail-Bar-Surrogaten. In einer davon entdeckt sie Christiane, Mund an Mund eng verschweißt mit Marco. Es ist ihr ein bisschen peinlich, doch sie stellt sich neben die beiden und räuspert sich ein paarmal so laut sie kann. Keine Reaktion.
Helga verstärkt das Räuspern durch ein aufgesetztes Husten. Keine Reaktion.
»Ähem, Christiane, hallo ...« Keine Reaktion.
Erst, als Helga ihre Freundin in die Seite kneift, bemerkt diese sie. »Ah, gut, dass du da bist«, sagt Christiane, den Lippenstift quer über das Gesicht geschmiert. »Wir wollen gleich mal losfahren. Willst du mit? Soll ich dich zuhause absetzen?«
Damit hat Helga nicht gerechnet. Jetzt schon nach Hause? Ohne überhaupt mit Ritschie gesprochen zu haben? Unmöglich! Außerdem ist es gerade mal elf Uhr. Ihre Eltern erwarten sie nicht vor Mitternacht.
»Jetzt schon?«, fragt sie entgeistert. »Warum das denn?«
»Öh ... hier ist uns das zu ... laut. Marco und ich möchten uns noch ein bisschen unterhalten. Reden.«
Helga grinst. »Ja, ja.«
»Du musst gar nicht so komisch gucken. Wir wollen wirklich reden! Stimmt's, Marco?«
»Hmmmm«, murmelt Marco und nickt brav.
Helga grinst weiter.
»Wie kommst du denn dann nach Hause?«, fragt Christiane.
Ach ja , denkt Helga, nach Hause. Schwierig. Es sind ungefähr acht Kilometer bis zum Dorf. »Ach, ich fahre einfach mit Ritschie«, behauptet sie spontan. Das wäre natürlich ihr Traum – und ist ihr neuer Plan. Ritschie wird sie in seinem Auto (besser gesagt: im BMW seines Vaters) nach Hause fahren, sie werden die Smiths -CD hören und – ganz ohne Einwirkung von eiskaltem Wasser – erkennen, dass sie seelenverwandt sind. Dann werden sie am Straßenrand anhalten und sich lange küssen. Genau. So wird es sein.
»Ach, Ritschie ist da? Dann ist ja alles gut«, sagt Christiane.
Wenn die wüsste , denkt Helga. Bis alles gut wird, ist es
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