Friss oder stirb
einzustufen, sondern würden – wenn man ihnen wieder eine Chance gäbe – auch dazu führen, dass Bauern und Züchter die Souveränität über ihr Saatgut zurückerlangen würden. Im Gegensatz zu Hybriden lassen sich solche reinerbigen Sorten nämlich weiterzüchten und an den jeweiligen Standort anpassen. [ Abb. 16 ] Hybriden hingegen sind – das gilt für Pflanzen ebenso wie für Tiere – biologisch degeneriert und müssen jedes Jahr neu bei dem jeweiligen Konzern eingekauft werden.
Der britische Pflanzengenetiker Ben Gable [ Abb. 17 ] hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen Beitrag zum Erhalt der biokulturellen Vielfalt samenfester Gemüsesorten zu leisten. In West-Wales hat er ein eigenes Saatgutunternehmen namens Real Seeds gegründet, in dem er in Zusammenarbeit mit Bauern aus der Region nicht nur Erhaltungszüchtung betreibt, sondern die wertvollen alten Sorten auch weiterentwickelt und an die regionalen Standorte anpasst. Während meines Besuches in Wales traf ich den engagierten Wissenschaftler und Praktiker, der an der Universität Cambridge Pflanzenwissenschaften (Plant Science) studiert hatte. In unserem Gespräch, das an einem gemütlichen Kaminfeuer in einem alten walisischen Bauernhaus stattfand, legte er offen, weshalb er dem allgemeinen Trend der Hybridzüchtung skeptisch gegenübersteht und welche gesellschaftlichen Gefahren davon ausgehen.
Ben Gable : Die Menschheit betreibt als Spezies seit 11.000 Jahren Landwirtschaft. [Ben Gable drehte sich um und deutete in Richtung der Hauswand.] Würden wir die 11.000 Jahre als Strecke darstellen, dann wäre der Anfangspunkt irgendwo da draußen hinter dieser Wand, die Forststraße hinauf, über die Felder, dort oben auf dem Hügel. Seit diesem Punkt hoben die Menschen Jahr für Jahr Samen auf und verbesserten die jeweiligen Sorten durch Selektion auf Basis der Arbeit ihrer Vorfahren. Dabei passten sich die Pflanzen an die regionalen Böden an, entwickelten unterschiedliche Geschmacksrichtungen und wurden entsprechend den Bedürfnissen der jeweiligen Kultur und deren Art zu kochen adaptiert. So trug jede Generation zur Verbesserung und weiteren Anpassung der Sorten bei. Wenn wir uns dann weiter bewegen zum Bronzezeitalter, das auf unserer imaginären Strecke vielleicht dort draußen auf dem Parkplatz vor der Hofeinfahrt liegt, waren an diesem Punkt die wichtigsten Gemüsearten bereits domestiziert und es existierten zahlreiche Varietäten, die als Vorläufer unserer heutigen Sorten zu betrachten sind.
Clemens G. Arvay : Es war wie ein durchgehender Entwicklungsstrom, der nie abriss. Irgendwann muss sich das aber geändert haben.
Ben Gable : Bewegen wir uns auf der vorgestellten Strecke weiter herunter, bis zur modernen Zeit. [Ben Gable vollzog mit seiner rechten Hand eine ausholende Bewegung in die Richtung des Parkplatzes vor dem Haus und führte seine Hände dann ganz nah aneinander.] Wenn meine linke Hand die Gegenwart anzeigt, dann stellt meine rechte den Zeitpunkt für ein einschneidendes Ereignis dar: Im 20. Jahrhundert erfanden wir Hybridsaatgut zur Ertragssteigerung. In den 1960er-Jahren wurden die ersten kommerziellen Mais-Hybriden in Umlauf gebracht. Und an diesem Punkt sagten wir plötzlich: Nun, wir brechen die Entwicklung ab, wir bleiben bei dem, was wir derzeit haben.
Clemens G. Arvay : Hybriden können sich nicht mehr reinerbig fortpflanzen, wodurch der traditionelle Entwicklungsstrom der Pflanzenzucht abgebrochen wird. Vertreter der Agrarindustrie würden aber vermutlich argumentieren, dass sie gerade durch Hybridtechnologie erst die rasanten Verbesserungen gebracht haben, welche die Wirtschaft braucht.
Ben Gable : Saatgutkonzerne lieben Hybridsaatgut, weil niemand außer ihnen weiß, aus welchen Eltern- und Großelternpflanzen die Laborlinien entstehen. Also kann nur der Konzern die jeweilige Hybride reproduzieren. Die Bauern können die Samen nicht mehr selbst gewinnen und wenn sie es doch versuchen würden, dann käme in der nächsten Generation ein unbrauchbares Mischmasch verschiedener Formen heraus. Worin soll da die Verbesserung bestehen?
Der Grund für die biologische Degeneration der Pflanzen ist der, dass Hybriden durch die Kreuzung von zwei sehr unterschiedlichen Inzuchtlinien entstehen. Es handelt sich um genetisch völlig verarmte Elternpflanzen. Wenn diese gekreuzt werden, um eine F1-Hybride zu produzieren, vermischt sich das degenerierte Genmaterial. [Anmerkung: „F1“ ist nach Gregor Mendel die Bezeichnung für
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