Friss oder stirb
Essensvernichter“ direkt bei der EU nach. Ihr Gesprächspartner war Roger Waite, Pressesprecher des EU-Agrarkommissars.
„Immer wieder die alte Geschichte von der krummen Gurke“, antwortete Waite. „Der Punkt dabei ist: Die EU-Kommission hatte die Gurkenrichtlinie nur deswegen erlassen, weil der Handel gerade Gurken wollte, die einfacher zu verpacken sind.“ Gerade Gurken lassen sich besser aneinanderschlichten, sodass man pro Kiste oder pro Lastkraftwagen größere Mengen unterbringen kann und sich die Lager mit einer höheren Anzahl Gurken anfüllen lassen, als dies bei gekrümmten Gurken der Fall wäre. Zwanzig Jahre lang war es also tatsächlich vorgeschrieben, dass Gurken auf zehn Zentimeter Länge maximal einen Zentimeter Krümmung aufweisen durften. „Im Juli 2009 haben wir die Richtlinie geändert“, fuhr Roger Waite fort. „Wenn heute jemand krumme Gurken verkaufen will, dann wird die EU nicht sagen: Nein, Du darfst das nicht.“ [28]
Gleichzeitig wurden die Vermarktungsnormen für 26 Obst- und Gemüsearten gestrichen. Es gibt seither zum Beispiel für Karotten keine zwingenden Normvorgaben der EU, die etwa den Verkauf von zweiachsigen Exemplaren, von größeren oder kleineren, verbieten würden. Dasselbe gilt für andere gängige Obst- und Gemüsearten. Es gibt keinen Zwang zur Lebensmittelvernichtung, der politisch durch die EU vorgeschrieben wäre, sondern die Lebensmittelkonzerne treffen tagaus, tagein aus eigener Verantwortung die Entscheidung zur Essensvernichtung aus rein marktstrategischen Gründen – in der biologischen Produktion ebenso wie in der konventionellen.
Lediglich bei ein paar Produktgruppen wie Äpfeln hat die EU noch immer ihre Finger im Spiel: Solche mit weniger als sechs Zentimeter Durchmesser dürfen nicht als Speiseobst verkauft werden und auch die Färbung der Schale muss je nach Sorte bestimmte Normen erfüllen [29] .
Wie die Lebensmittelkonzerne ein Menschheitserbe aufs Spiel setzen
„Die Kinder werden nicht mehr wissen,
wie eine Tomate geschmeckt hat, oder ein Apfel.
Alles wird anders schmecken.“
(Karl Otrok, ehemaliger Produktionsdirektor beim Saatgutkonzern Pioneer)
Als ich im Jahr 2011 Bio-Tomaten der österreichischen REWE-Eigenmarke Ja!Natürlich zurückverfolgte, stieß ich auf Tomatenkulturen, die aus konventionellem, also nicht-biologischem Hybridsaatgut gezogen wurden, das aus dem Hause Monsanto stammte [30] . Dies ist kein Einzelfall. Um den Anforderungen der Industrie gerecht zu werden, hat die EU ein Schlupfloch eröffnet, das vor allem von Großproduzenten rege genutzt wird. Wenn eine bestimmte Pflanzensorte nicht als Bio-Saatgut erhältlich ist, darf auch in der ökologischen Produktion auf herkömmliches, konventionelles Saatgut zurückgegriffen werden [31] , solange nicht die Samen selbst mit im Biolandbau verbotenen Chemikalien gebeizt wurden. Viele Produzenten, die den Ertrags- und Mengenforderungen der Lebensmittelkonzerne gerecht werden müssen, sehen keine andere Möglichkeit, als dieses Schlupfloch auszureizen. So kommt es vor, dass konventionelles Saatgut für die biologische Produktion auch von international in die Schlagzeilen geratenen Agrarkonzernen geliefert wird.
Abgesehen davon, dass auch Bio-Gemüse im Supermarkt häufig aus konventionellem Saatgut gezogen wird, ist festzuhalten, dass es sich in nahezu jedem Fall um Hybridsaatgut handelt – auch wenn dieses aus biologischer Produktion stammen sollte.
Als problematisch daran ist nicht die Tatsache einzuschätzen, dass im Biobereich Hybridsaatgut grundsätzlich eingesetzt wird, sondern dass die Rahmenbedingungen des Marktes zu einer Situation führen, in der auch Bio-Produzenten fast ausschließlich auf solche Hybriden zurückgreifen müssen, um bestehen zu können. Die einstige Forderung der Pioniere des Ökolandbaus, wieder auf reinerbige, standortangepasste Sorten zurückzugreifen, ist heute im biologischen Pflanzenbau ebenso wenig erfüllt wie in der biologischen Tierhaltung die Forderung, von Leistungshybriden Abstand zu nehmen.
Dabei hat die Menschheit in ihrer Jahrtausende langen Agrargeschichte eine Vielfalt von fast 5.000 Kulturpflanzenarten hervorgebracht, von denen jede einzelne meist mehrere, oft Hunderte bis Tausende unterschiedlicher Sorten umfasst. Allein von der Tomate, deren botanische Artbezeichnung Solanum lycopersicum lautet, sind mehrere tausend bekannt.
Solche samenfesten Sorten sind nicht nur als hoch gefährdetes kulturelles Menschheitserbe
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