Friss oder stirb
Und dann wird alles möglich. Dann ist „Stunde null“.
„Der kritische Konsument ist wichtig wie eine Wählerschaft, die mit der Geldbörse abstimmt. Doch vermag er nicht alles. Auch Entwicklungen außerhalb des Marktes sind nötig. Das derzeitige Agrarsystem schafft es vor lauter ökonomischen Zwängen noch länger nicht zur Nachhaltigkeit.“ [51] Dies schrieb der Universitätsprofessor Dr. Bernd Lötsch, ehemaliger Direktor des Naturhistorischen Museums Wien, in seinem Vorwort für mein Buch „Fruchtgemüse – Alte Sorten und außergewöhnliche Arten neu entdeckt“.
Worin also könnten diese „Entwicklungen außerhalb des Marktes“ bestehen? Es wird – wie es die Diktion des Professors Lötsch andeutet – eine Entwicklung sein müssen, die sich nicht im konventionellen Lebensmittelhandel, nicht im Supermarkt oder beim Discounter und nicht in der Industrie abspielen kann.
Um Alternativen zu schaffen, wozu auch der Wiederaufbau dezentraler Strukturen und kleinstrukturierter Höfe zählen kann, werden wir uns völlig unabhängig von Konzernen und möglicherweise sogar gegen deren Widerstand in die Gänge bewegen müssen. Das soll heißen, wir müssen uns sowohl als Konsumenten als auch als Bauern und Produzenten selbst einmischen, wir müssen selbst aktiv werden. Es kann nämlich nicht geleugnet werden, dass für die derzeitigen Zustände in unserem Lebensmittelsystem nicht der Handel und die Industrie allein verantwortlich sind. Der Lebensmittelkauf ist wie eine politische Wahl. Und offenbar fällt diese Wahl in ganz Europa jeden Tag und immer wieder zugunsten der großen Konzerne und ihrer Wirtschaftsweise aus. Wir Konsumentinnen und Konsumenten sind nicht die Opfer. Wir sind Teil eines hochkomplexen Gewebes aus durchschaubaren und weniger durchschaubaren Zusammenhängen.
Michael Hartl, Medienfachmann und Selbstversorger im Südburgenland (Österreich), brachte das Problem der Verantwortlichkeit für die herrschenden Bedingungen in unserem Lebensmittelsystem während unseres „Sommergesprächs“ 2012 mit folgenden Worten trefflich auf den Punkt:
„Es ist ja so, dass die Supermärkte in diesem System auch selbst Gefangene sind. Ein Supermarktkonzern kann meines Erachtens gar nicht ernsthaft ethisch handeln, weil er in einem ständigen Preiskampf mit der Konkurrenz steht. Das hat System. Wir als Gesellschaft wollten offenbar, dass alles einfach immer nur billiger wird. Lebensmittel sind in Mitteleuropa heute so billig wie nie zuvor, wenn man inflationsbereinigt rechnet. Die Menschen geben zum Beispiel in Deutschland und Österreich nur mehr zehn bis zwölf Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus und die Kehrseite davon ist eben, dass außer dem Preis alle anderen Kriterien zu kurz kommen. Einerseits haben die Supermärkte natürlich, verglichen mit einem einzelnen Konsumenten oder einer einzelnen Konsumentin, sicher mehr Macht. Ich glaube aber, dass die Konsumenten in Summe sehr wohl entscheiden, welches Vermarktungskonzept wirtschaftlich erfolgreich ist und welches nicht. Das heißt: Es gibt nicht den eigentlichen Schuldigen. Auch die Konsumenten spielen eine Rolle in dem System.“
Die Überwindung der Opferrolle und die Kündigung des Einverständnisses
Die Wiener Agrarsoziologen Josef Krammer und Franz Rohrmoser sehen in der agrarpolitischen Lage einen Missbrauch der Bauernschaft durch Politik und Wirtschaft. Werde Gewalt in struktureller Form ausgeübt, so schreiben sie, könne es sein, dass sich die betroffenen Bauern nicht einmal des Missbrauchs bewusst sind. Es käme so zu einem stillschweigenden Einverständnis. [52]
Einen ähnlichen Mechanismus vermute ich hinter der latenten Zustimmung der Konsumenten gegenüber dem vorherrschenden Lebensmittelsystem, die ja in gewissem Sinne ebenso wie die Bauern Missbrauchte des Handels und der Industrie sind, geht es doch darum, ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Nach Josef Krammer und Franz Rohrmoser existieren in gesellschaftspolitischen Spannungsfeldern jedoch stets verschiedene Stufen des Bewusstseins: „Die einen erkennen nicht wirklich, was vor sich geht. Andere merken, dass etwas faul ist, geben aber dazu ihr Einverständnis. Getreue verteidigen das System bis zur Selbstschädigung. Kritische Aktive leisten Widerstand und entlarven das System.“ [53]
Darauf aufbauend schlagen Krammer und Rohrmoser vor, die sogenannte „Arroganz des kleinen Bürgers“ möglichst direkt anzusprechen. Als „kleinen Bürger“ sehen sie jene
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