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Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

Titel: Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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Ihr Berzel wackelte hektisch beim Schulterstemmen der Kamera. Sie sprangen als Letzte auf den abfahrenden Zug und filmten die zurückbleibenden Gäste.
    Ein kleines Mädchen war fassungslos. »Mutti, wohin fahren die?«
    »Die fahren jetzt zur Kapelle.«
    »Mutti, was hat denn das Mädchen gemacht? War es böse?«
    »Nein. Aber jetzt sei ruhig. Wir werden jetzt mit der Bahn abgeholt.«
    »Mutti, ich will nicht mitfahren.«
    Andere Kinder reagierten ähnlich. Verschreckt. Viele Eltern gingen.
    Die Fröhlichkeit der Gesellschaft stellte sich nicht wieder ein. Die Menschen wirkten eher bedrückt. Einige verließen die Halle. Ich schaute mich nach dem eleganten Herrn um, der in Begleitung seines Schwatzvögelchens war. Ich sah ihn nicht. Wahrscheinlich hatte er den Zug bestiegen und fuhr zur Kapelle. Ich hatte ihn übersehen in dem Tumult.
    Was sollte ich tun? Barbara hatte die Halle mit dem Priester und der untersetzten Frau verlassen. Ich folgte den Menschen, die auf den Ausgang zustrebten.
    »Was ist da passiert?«, fragte ich einen Mann, der neben mir ging.
    »Was soll man dazu sagen?« Er war nicht wirklich gesprächsbereit.
    »Der Mlasec ist ein Verbrecher«, entrüstete sich eine Frau, die meine Frage hörte.
    »Der Hippchen doch genauso«, warf eine andere Frau ein.
    »Wer ist Hippchen?«
    »Der Chefarzt.« Der Frau brannte es scheinbar auf der Seele. Sie wollte berichten, was für ein schlechter Mensch der Chefarzt sei. Das sah man ihrer Mimik an, dass sie von dem Chefarzt Hippchen nicht allzu viel hielt.
    »Miriam, halte dich da raus«, unterbrach sie ihr Mann.
    Die Frau widersprach in ihrer Muttersprache. Ich kannte die Sprache nicht. Sie klang slawisch.
    »Wo ist er denn Chefarzt?«
    »Bei Saarlouis hat der eine chirurgische Privatklinik. Das darf man gar nicht laut erzählen, was da alles passiert.«
    Ihr Mann nahm sie jetzt energisch am Arm und zog sie schimpfend aus der Halle.
    Bevor ich ins Freie trat, blieb ich stehen. Ich musste damit rechnen, dem Priester zu begegnen. Es war grotesk. Nach über 30 Jahren stand draußen vor diesem Riesenbunker, der mich an einen gewaltigen Schrank erinnerte, in dem gerade ein Albtraum stattgefunden hatte, der Mann, der Priester, den ich durch das Schlüsselloch des Pelzschrankes meiner Mutter als Knabe beim Hantieren unter ihrem Rock beobachtet hatte. Unter dem Stöhnen meiner Mutter schraubte sich sein Hüsteln aus der Kehle, wie ich es gerade eben nach so langer Zeit wieder gehört hatte. Ich rang mühsam um Fassung. Die Vergangenheit raste zielsicher auf mich zu genau in den Bunker, in dem ich gerade stand, wie auf einen Meeting Point, als wäre ich nach so langer Zeit mit meiner Vergangenheit verabredet, und draußen wartete unausweichlich der Priester, der wahrscheinlich gar nicht wusste, welche Rolle er in meiner Kindheit gespielt hatte. Dass ich ihn belauscht hatte. Dass ich panikartige Lustattacken hatte. Dass ich voller Entsetzen fürchtete, entdeckt zu werden bei verbotenen Spielen, die ich selbst gar nicht gespielt hatte. Mich überfiel die Vorstellung, auch meine Mutter könnte draußen, an der Seite des Priesters, auf mich warten.
    Es war die unglaublichste aller Lachsalven, die ich jemals erlebt hatte. Es begann zunächst wie ein leichtes Glucksen, ein zartes Lüftchen, das mir die Kehle hochstieg, zart über das Gaumensegel strich, sich dann aber – ich konnte nichts dagegen tun, ganz im Gegenteil, ich lechzte danach, es befreite mich – unwiderstehlich mit rasender Geschwindigkeit zum Sturm steigerte, zu Windhosen, die mir unablässig aus der Kehle, aus dem weit geöffneten Mund stiegen. Mit nach hinten gebeugtem Oberkörper stand ich in der Bunkerhalle, wo im Krieg die Munition gelagert worden war, und lachte, dass es mich zu zerreißen drohte. Ich wusste, dass dieses Lachen nie enden würde. Es hallte laut wider in der Halle. Sicherheitsbeamte, bullige Kerle, packten mich und schleiften mich ins Freie, und ich schrie vor Lachen. Menschen schauten mich konsterniert an. Draußen stand Barbara. Vor einem Auto. In dem Auto erkannte ich durch meine Lachtränen, die wie Fontänen aus meinen Augen spritzten und mir die Wangen herunterliefen, den Priester und die untersetzte Frau. Das Mädchen sah ich nicht. Aber ich vermutete, dass es auch im Auto war. Die Sicherheitsbeamten waren verunsichert, weil ich mich in ihrem festen Griff in heftigsten Lachzuckungen konvulsivisch wand wie ein großer Fisch in Atemnot, sodass sie mich kaum halten konnten. Barbara kam

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