Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
herbeigeeilt.
»Lassen Sie ihn los.«
Die Kerle hatten einen ungemein dämlichen Ausdruck im Gesicht. Sie waren dieser Situation nicht gewachsen, sie waren von diesem lachenden, zuckenden Menschenbündel in ihren Klauen völlig überfordert. Einer von ihnen grunzte vor Anstrengung wie ein Eber, was mein Lachen nur neu entfachte. Sie ließen mich los. Auch eine vorbeifliegende Mücke hätte mich jetzt entzückt oder ein fallender Backstein oder ein explodierendes Munitionslager das uns allesamt, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, samt Schrank und Bunker weggerissen hätte. Barbara nahm mich in den Arm. Mein Lachen verstummte allmählich. Verebbte in einem Schluchzen. Ich löste mich von ihr und wischte mir die Tränen aus den Augen.
»Selten so gelacht«, sagte ich nur. Mir tat vor Lachen das Zwerchfell weh. Ich konnte kaum atmen. Barbara schien das zu ignorieren. Plötzlich war sie sehr sachlich.
»Dem Mädchen geht es nicht gut. Es ist stationär in einer psychiatrischen Abteilung untergebracht. Es lebt illegal hier und wird von einer Vertreterin des Flüchtlingsrates betreut. Das Mädchen lebte zeitweilig im Flüchtlingslager. Mehr war aus der Frau nicht herauszukriegen. Sie will das Mädchen schützen. Ich sagte ihr, dass ich Psychiaterin bin und traumatisierte Flüchtlinge in Berlin behandele. Sie willigte ein, dass ich in das Krankenhaus, wo das Mädchen behandelt wird, mitfahre. Mehr konnte ich nicht erfahren.«
»Und der Priester?«
»Das weiß ich nicht. Er machte der Frau indirekt Vorwürfe. Sie hätte mit dem Mädchen nicht kommen dürfen. Die Reaktionen des Mädchens wären absehbar gewesen. Bei ihrem illegalen Status seien derartige Auffälligkeiten sehr riskant. Damit würde ihre medizinische Versorgung aufs Spiel gesetzt. Womit er wahrscheinlich recht hat. Offenbar kennt er die beiden. Für mich ist das alles noch nicht durchschaubar.«
Die Anwesenheit des Priesters nervte mich. Ich hätte ihn am liebsten aus dem Wagen gezerrt und ihm einen Tritt verpasst. »Wie komme ich denn nach Schlabbach zurück?«
»Der Priester fährt. Wir fahren hinterher. Über Schlabbach. Ich setze Sie dort ab. Ich fahre dann weiter. Es wäre jetzt zu viel, wenn Sie mitführen.«
Ich hatte gar kein Verlangen, mitzufahren. Ich sah die gewaltigen Pranken des Riesen vor mir, wie er das Kinn des Mädchens umfasste wie ein dürres, zerbrechliches Reisig. Diese Hände konnten auch Nemec töten. Ganz offensichtlich kannte der Priester diesen Mlasec. Man sah es an der Art, wie er auf ihn einredete. Mlasec hatte den Griff sofort gelockert. Er hatte den Priester auch nicht daran gehindert, das Mädchen fortzutragen.
Ich handelte wie unter Zwang. Der Priester saß auf der Fahrerseite. Ich öffnete die Wagentür auf dieser Seite. Ich sah den Priester an. Er hatte ein scharf geschnittenes, intelligentes Gesicht. Das volle, dunkelbraune Haar war gewellt. Er wirkte trotz seines Alters jugendlich. Er war immer noch ein gut aussehender Mann. Er hatte einen Anflug von Spott im Gesicht. Es gab nichts zu spotten.
»Ja?«
Sein Blick war kühl. Der Mann war berechnend. Ich mochte ihn nicht. Nicht nur unserer gemeinsamen Geschichte wegen. Er hatte zwei Gesichter. Welches war gerade an der Reihe? Die Hand am Hintern einer Frau im Beichtstuhl oder die Inbrunst christlicher Barmherzigkeit? Der Mann war ohne Zweifel intelligent. Ein Rationalist, der seine Schritte kühl kalkulierte. Er hatte aber auch Pranken mit scharfen Krallen, die er unter der Soutane verbarg. Er erkannte mich nicht.
»Ja?«
Ich schlug die Wagentüre mit einem Knall zu. Die Frau und das Mädchen hatte ich nicht angesehen. Ich atmete tief durch.
»Alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung.«
»Fahren wir.« Wir bestiegen Barbaras Auto. Der Priester fuhr voraus. Wir folgten ihm. Es war früher Abend. Die Sonne war immer noch prall. Ein Schwarm Stare fiel in eine frisch gemähte Wiese ein. Ab Metz nahmen wir die Autobahn.
»Der Bräutigam hatte einen Schant.«
Ich wusste nicht, was ein Schant ist.
»Dialysepatienten haben einen Schant am Unterarm. Nierenkranke. Das ist ein Verbindungsstück unter der Haut, mit dem der Blutkreislauf verbunden ist. Mit dem Schant wird der Dialysepatient an der Dialysemaschine angeschlossen. Der Mann fuhr sich ständig mit der Hand durch sein Haar. Er war sehr nervös. Dadurch rutschte unter dem Anzug sein Hemdsärmel hoch. So habe ich den Schant gesehen. Außerdem hatte er die typische Haut von Dialysepatienten. Sehr trocken, leicht
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