Frösche: Roman (German Edition)
gerade modellierte. Er schlüpfte in die Haut des Kindes, das er erschuf. Er ist mit seinen Schöpfungen aufs engste verbunden. Als wären sie sein eigen Fleisch und Blut.
Die Zahl der Tonkinder auf seiner Arbeitsplatte wuchs. Er stellte die Bübchen – und natürlich auch die Mädchen – im Halbkreis vor sich auf, ihm zugewandt, so wie ich es im Traum erlebt hatte. Genauso! Ich war völlig überrascht, als ich das sah. Auf einmal wurde es mir klar! Es war also möglich, dass zwei Menschen ein und denselben Traum hatten. Konnte es anders sein?
Angeblich beschreiben die Alten mit dem Vers In meinem Herzen habe ich ein zaubermächtiges Horn 20 , wodurch unsere Seelen auf immer miteinander verbunden sind die Liebe zwischen Mann und Frau, aber ich finde, er passt genau auf den Meister und mich. Wir haben zwar keine gemeinsame Liebesgeschichte, aber wir haben eine gemeinsame Leidensgeschichte. Nachdem ich euch so viel über ihn erzählt habe, versteht ihr bestimmt, warum keins der von ihm geschaffenen Tonkinder dem anderen gleicht. Er betrachtet die Kinder nicht nur im realen Leben genau, er kann sich sogar noch in seinen Träumen Kinder anschauen. Ich habe nie gelernt, meine Hände zu benutzen, und kann so etwas nicht. Aber ich besitze eine überbordende Phantasie. Meine Augen haben die Fähigkeiten von Videokameras, ich kann mir das Abbild eines einzelnen Kindes genauso merken wie das von zehn, hundert oder tausend Kindern. Mit Hilfe von Träumen kann ich die in meinem Hirn gespeicherten Kinderbilder an den Meister übertragen und durch die geschickten Hände des Meisters werden daraus Kunstwerke.
Deswegen sind ich und der Meister meiner Meinung nach von Natur aus zur Zusammenarbeit geschaffen. Man kann deshalb auch behaupten, dass die Tonkinder unser Gemeinschaftswerk sind. Nicht dass ich mich erdreisten wollte, seinen Erfolg zu schmälern! Ich bin durch meine Liebesgeschichte für Karriere, Ruhm, Profit und Beamtenstatus unempfindlich geworden; derlei Dinge sind für mich bedeutungslos wie vorbeiziehende Wolken.
Ich betone nur dieses Wunder, dass nämlich Träume und Kunst miteinander verknüpft sind – ihr sollt doch wissen, dass meine unerfüllte Liebe für mich ein wertvolles Kapital darstellt. Besonders für Künstler sind eine unerfüllte Liebe, der Liebeskummer und das damit verbundene Leid eine Quelle, durch die sie die höchsten Sphären der Schöpferkraft erreichen.«
Während Lebers brandender Redefluss wie eine Endlosschleife weiterlief, verharrte der Meister regungslos, das Kinn auf beide Hände gestützt, als wäre er längst zur Skulptur geworden.
4
Ein Junge brachte uns auf Wang Lebers Geheiß eine DVD mit der Reportagereihe Legendäre Persönlichkeiten Nordost-Gaomis . Er trug Hosenträgershorts, aus denen seine langen Beine wie die von Pinocchio herausragten. Die Füße steckten in Bergschuhen. Er hatte flachsfarbene Haare, hellblonde Brauen und Wimpern und graublaue Augen. Man sah auf den ersten Blick, dass er ein Ausländer war. Kleiner Löwe suchte sofort nach Süßigkeiten, aber der Junge verschränkte die Arme hinter dem Rücken und sagte in bester Nordost-Gaomi-Mundart: »Wang Leber hat gesagt, ihr müsst mir mindestens zehn Yuan geben.«
Wir gaben dem Jungen zwanzig Yuan. Er machte einen Diener und verschwand pfeifend treppab nach draußen. Vom Fenster aus schauten wir ihm hinterher, wie er einer Comicfigur ähnlich in Riesenschritten zur Achterbahn im Vergnügungspark auf der anderen Seite der Straße rannte.
Einige Tage später trafen wir ihn wieder, als wir am Fluss spazieren gingen. Er war mit einer hochgewachsenen Weißen unterwegs, die einen Kinderwagen schob. Der Junge und ein Mädchen, augenscheinlich sein Schwesterchen, hatten Inlineskates an den Füßen, bunte Helme auf den Köpfen, Ellenbogen- und Knieschützer an Beinen und Armen und fuhren vorsichtig ihrer Mutter hinterher. Ihr folgte ein gutaussehender Südchinese um die Vierzig, der in einem angenehmen Hochchinesisch südlicher Prägung auf seinem Handy ein Telefonat führte. Den Schluss dieser Gesellschaft bildete ein dicker Golden Retriever.
Ich erkannte den Chinesen auf der Stelle, er war ein berühmter Professor irgendeiner Pekinger Hochschule, ein Promi der Pekinger Gesellschaft, der regelmäßig im Fernsehen auftrat. Kleiner Löwe konnte es mal wieder nicht lassen und hatte sich mit ihrem molligen Gesicht über das blauäugige Baby im Kinderwagen gebeugt. Die Frau lächelte ausgesprochen höflich, der Professor
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