Frösche: Roman (German Edition)
Abend nach meinem offiziellen Eintritt in den Ruhestand hatten ein paar meiner alten Kollegen im Restaurant einen Tisch bestellt. Ich war an jenem Abend betrunken.
Der Schnaps war schlecht, ich hatte gar nicht viel getrunken. Jie Xiaoque, der Chef des Restaurants, ein Sohn des Jie Zhuas – 1963 habe ich ihn auf die Welt gezogen, –, holte eine Flasche Wuliangye hervor, um mir Respekt zu erweisen, wie er sagte. Das war, verdammt noch mal, gepanschter Schnaps. Ich trank ein halbes Glas, dann wurde mir so schlecht, dass mir Hören und Sehen verging. Alle am Tisch, die von dem Fusel getrunken hatten, kippten von den Stühlen. Jie Xiaoque erbrach weißen Schaum und verdrehte die Augen.«
Gugu erzählte, sie sei dann schwer torkelnd gegangen und hätte eigentlich ins Wohnheim des Krankenhauses zurückgewollt, sei aber versehentlich in die Aue gelaufen und in eine Senke geraten. Einen gewundenen Pfad entlang, zu beiden Seiten mannshohes Schilf, und Wasser sei da gewesen. Das habe im Mondschein hell geschimmert wie Glas. Kröten und Frösche hätten laut gequakt, mal auf der einen, mal auf der anderen Seite. Ein auf- und abebbendes Quaken wie die Lieder, die sich die Leute über die Täler im Hochgebirge zusingen. Manchmal sei das Gequake auch von überallher gekommen. Alle hätten in der Riesensenke gleichzeitig gequakt, bis zum Himmel hinauf habe es getönt. Dann habe plötzlich Stille geherrscht. Grabesstille. Bis auf das Summen der Insekten.
Gugu betonte, sie sei in den vielen Jahren, in denen sie Hausbesuche gemacht habe, in unzähligen Nächten unterwegs gewesen. Nie habe sie sich vor etwas gefürchtet, aber in jener Nacht habe sie die Furcht gepackt.
Man sagt, das Quaken von Fröschen höre sich wie Trommeln an. In jener Nacht habe es sich aber wie Weinen angehört. Wie das Weinen von Tausenden und Abertausenden Neugeborenen.
Sie habe ja das Schreien der Neugeborenen immer so gern gehört! Für eine Frauenärztin ist der erste Schrei des Neugeborenen die schönste und bewegendste Musik auf der ganzen Welt! Aber in jener Nacht habe in dem Froschgesang Hass mitgeklungen. Das Schreien von Wesen, die ihrer Würde beraubt wurden, die in äußerster Bedrängnis sind, so habe es geklungen! Als wären es die Neugeborenen, an denen sie sich versündigt hatte, und deren Totengeister nun Anklage erheben würden. Auch der letzte Tropfen Schnaps, den sie bei Tisch getrunken habe, sei ihr auf der Stelle als eiskalter Schweiß aus den Poren gedrungen, als sie das gehört habe.
»Denkt nicht, dass das etwa Halluzinationen durch übermäßigen Alkoholgenuss gewesen wären! Der Schnaps hatte den Körper als kalter Schweiß längst wieder verlassen. Ich konnte glasklar denken.«
Sie habe dem sie umzingelnden Gequake auf dem matschigen Pfad entfliehen wollen. Doch wie? Wohin hätte sie sich retten können? Wie schnell sie auch gerannt sei, das Quaken, dieses hasserfüllte, wüste Weinen habe sie von überallher bedrängt.
Sie erzählte weiter, sie habe wegrennen wollen, habe aber keine Kraft mehr gehabt. Der Pfad sei zu matschig gewesen. Zäher Matsch, wie Kaugummi, das die jungen Leute auf die Straße spucken. So habe der Matsch unter ihren Füßen geklebt. Sie habe ihre Füße nicht mehr heben können. Mit ganzer Kraft habe sie sich abgemüht. Dann habe sie entdeckt, dass sich zwischen ihren Schuhsohlen und der Erde ein dichtes, silbernes Seidengespinst befand. Sie habe versucht, diese Fäden zu durchtrennen. Aber immer, wenn sie ihren Fuß wieder aufgesetzt habe, seien neue Seidengespinste aufgetaucht. Sie habe die Schuhe fortgeworfen und sei barfuß weitergelaufen. Aber barfuß sei das Ziehen noch stärker gewesen. Sie habe es noch viel deutlicher gespürt. Als hätten die Fäden des Gespinsts Saugnäpfe bekommen, hätten sie bombenfest an ihren Fußsohlen geklebt. Die Haut ihrer Fußsohlen habe sich beinahe abgelöst.
Gugu berichtete, sie habe schließlich am Boden gekniet. Wie ein Riesenfrosch sei sie vorwärtsgekrochen, aber der Matsch und das Gespinst hätten sich an ihren Knien, an den Waden und an den Handtellern festgesaugt. Sie habe darauf aber keine Rücksicht genommen und sei weiter vorwärtsgekrochen. Dann seien mitten aus dem dichten Schilfröhricht, da wo das silbern schimmernde Wasser zu sehen gewesen sei, zwischen den Seerosen unzählige Frösche herausgesprungen. Grasgrüne seien darunter gewesen, goldgelbe, manche groß wie ein Bügeleisen, andere klein wie Dattelkerne, manche mit Goldsternaugen, manche
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