Frösche: Roman (German Edition)
die Hand.
»Was ist denn los, dass du herkommst?«, fragte meine Tante übelgelaunt, »und was schleppst du da an?«
Ich sagte total aufgeregt, mit zitternder Stimme: »Ein reaktionäres Flugblatt! Ein reaktionäres Flugblatt von der Kuomintang!«
Zuerst ließ sie nur flüchtig den Blick drüber gleiten. Dann sah ich, wie ihr ganzer Körper heftig zusammenzuckte, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, kreidebleich mit aufgerissenen Augen starrte sie darauf. Als schmetterte sie eine sie anfallende Schlange, nein, mehr noch, als schmetterte sie eine giftige Unke ins Gebüsch, entledigte sie sich dieses Flugblatts!
Als sie sich dessen gewahr wurde und das Papier schnell wieder aufheben wollte, war es bereits zu spät.
Huang Qiuya hob das Papier auf und warf einen Blick darauf. Dann blickte sie zu Gugu hoch, um sofort wieder hinunter auf den Zettel zu starren. Ihre beiden hinter dicken Brillengläsern versteckten Augen spritzten Gift und Galle. Ihr Mund ließ ein eiskaltes Lachen hören. Mit einem Hechtsprung stürzte Gugu vor, um das Flugblatt wieder zu ergattern, aber Huang Qiuya drehte sich weg und wich ihr aus. Gugu kriegte sie aber noch am Kittel zu fassen und schrie schrill: »Gib es mir zurück!«
Huang Qiuya machte nur eine einzige Bewegung nach vorn, sssst, riss der Kittel entzwei und gab den Blick frei auf die Haut des Rückens, die weiß wie der Bauch eines Frosches war.
»Gib es zurück!«
Huang dreht sich um, das Flugblatt fest in ihren Händen hinter dem Rücken, am ganzen Leib zitternd und Schritt für Schritt rückwärts zur Tür weichend. Dabei sprach sie böse, aber triumphierend: »Es dir zurückgeben? Ha! Dir , einer hündischen Spionin! Einer Landesverräterin! Ausgespielt das Spielchen, du Drecksfott! Ach, dir wird jetzt bange? Deinen Ruf als Märtyrerwaisenkind nimmt man dir nicht mehr ab?«
Wie eine Wahnsinnige stürzte sich Tante auf Huang Qiuya. Die rannte auf den Flur und rief schrill: »Fasst die Spionin!«
Gugu, ihr auf den Fersen, streckte die Hand aus, kriegte ihr Haar zu fassen. Huang Qiuyas Hals machte einen Ruck rückwärts, aber das Blatt fest in der Hand, gellende Schreie ausstoßend, drängte sie mit allen Kräften nach vorn. Damals bestand das Gebäude der Krankenstation nur aus zwei Zimmerreihen zu beiden Seiten eines Flurs, vorn die Behandlungszimmer, dahinter die Verwaltung. Alle hörten die Schreie und kamen sofort hinaus auf den Flur, wo meine Tante Huang Qiuya inzwischen auf den Boden geworfen hatte und rittlings auf ihr sitzend versuchte, das Flugblatt zu ergattern.
Der Stationsleiter kam herbeigerannt. Glatzköpfig, mit schmalen Augen, dicken Tränensäcken und den Mund voller übertrieben weißer dritter Zähne.
»Was soll das hier? Aufhören! Hände weg!«, schrie er nur.
Gugu schien den Anschnauzer ihres Leiters nicht gehört zu haben, sie quetschte Huangs Hand immer heftiger. Deren Stimme war nicht mehr schrill, sie schrie auch nicht mehr, sie heulte nur noch.
»Wan Herz, gib nach!« Der Leiter war nun richtig wütend, die Umstehenden herrschte er an: »Ihr Pfeifen seid doch nicht blind! Trennt ihr sie wohl voneinander!«
Ein paar Ärzte zerrten Gugu gemeinsam unter Einsatz ihrer gesamten Kräfte von Huang Qiuya herunter. Ein paar Ärztinnen halfen Huang vom Boden auf. Ihre Brille war verschwunden, aus den Zahnzwischenräumen floss ihr Blut vom Mund am Kinn herunter, und Tränen rannen in trüben Rinnsalen aus ihren tiefliegenden Augen. Ihre Hand umkrallte immer noch das Flugblatt, während sie weinend flehte: »Stationsleiter, sagen Sie mir, was ich tun soll ...«
Gugus Kleidung war völlig verrutscht, alle Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen. Von den Wangen tropfte aus Kratzwunden Blut, die – ganz klar – von Huangs Fingernägeln stammten.
»Was ist passiert, Wan Herz?«, fragte der Stationsleiter. Meine Tante lachte düster, dabei schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie schmiss ein paar Papierschnitzel des Flugblatts auf den Boden. Keinen Ton sagte sie, als sie sich schwankend in die Station für Geburtshilfe zurückzog.
Huang Qiuya dagegen reichte dem Stationsleiter wie eine Heldin, die Kampfesstrapazen ausgestanden und große Erfolge errungen hat, den in ihrer Hand zu einem Knäuel zerknüllten Zettel, um sodann auf den Knien über den Boden zu rutschen und nach ihrer Brille zu suchen. Die gefundene Brille, von der ein Bügel abgebrochen war, setzte sie wieder auf die Nase und stützte sie mit einer
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