Frösche: Roman (German Edition)
Militäruniform mit einer roten Armbinde. Spärlicher Haarwuchs umkränzte seine im Sonnenlicht gleißende Glatze. Er imitierte Gestik und Tonfall, die wir von gewichtigen Persönlichkeiten aus Filmen kennen: langgezogene Laute, eine Hand in die Taille gestützt, die andere wild gestikulierend, der Körper in ständig wechselnden, raumgreifenden Posen. Seine Stimme wurde in ohrenbetäubender Lautstärke durch Hochfrequenzlautsprecher übertragen. Wie tosend gegen Stein klatschende Meeresfluten dröhnte das Brüllen der Massen vom Platz zu mir herüber. Offenbar kam es zu Störungen, denn wenn es auf der einen Seite still wurde, donnerte es von der anderen Seite. Ich sorgte mich um meine Mutter und die anderen alten Leute aus unserem Dorf. Also suchte ich mit den Augen das Eis nach ihnen ab, aber es reflektierte die Sonnenstrahlen so stark, dass ich nichts sehen konnte. Der Eiswind blies mir durch meine zerlumpte Steppjacke bis auf die Haut. Ich fror erbärmlich.
Auf einen Wink von Xiao Oberlippe griffen sich zehn, zwanzig Muskelpakete mit roten Armbinden, auf denen »Kontrollposten« stand, einen Knüppel, sprangen von der Bühne in die Menge und ließen die Knüppel tanzen, um die Ordnung zu wahren. An die Knüppelspitzen waren rote Stoffstreifen geknotet, die wie Flammen tanzten. Ein Junge bekam einen Schlag auf den Kopf, griff aufgebracht nach dem Knüppel, diskutierte lautstark mit dem Kontrollposten, bekam aber einen Faustschlag vor die Brust. Die Kontrollposten hatten Gesichter wie Stein. Bar jeden Gefühls schlugen sie zu, der Knüppel machte die Runde, die Menschen warfen sich wie rasend bäuchlings zu Boden. Durch die Lautsprecher schallte Xiao Oberlippes Geschrei.
»Alle setzen! Auf den Boden setzen! Holt die elenden Bösewichte rauf!«
Der Junge, der den Faustschlag auf die Brust bekommen hatte, wurde an den Haaren aus der Menge gleich mit nach oben gezerrt. Da waren unten auf dem Eis alle schlagartig ruhig. Manche knieten, manche saßen. Keiner wagte mehr aufzustehen. Die Kontrollposten stellten sich mit ihren langen Knüppeln gleichmäßig verteilt in der Menge auf. Wie die Vogelscheuchen im Feld!
»Zerrt die Rinder- und Schlangenteufel auf die Bühne!«, brüllte Oberlippe. Die Kontrollposten mit den Steingesichtern brachten die Rinder- und Schlangenteufel immer zu zweit auf die Bühne, einer packte sie von rechts, einer von links unterm Arm, so dass ihre Füße den Boden nicht mehr berührten.
Ich sah meine Tante.
Gugu gehorchte nicht. Als der Kontrollposten ihr den Kopf auf den Boden drückte und nur eben die Hand lockerte, kam sie geschwind wieder hoch. Ihr Widerstand machte ihn nur brutaler, er zwang sie nieder, prügelte sie, dass sie bäuchlings auf dem Boden zu liegen kam, während ein anderer Kontrolleur den Fuß auf ihren Rücken stellte und darauf stehen blieb. Da sprang so ein Parolenschreier aus der Menge auf die Bühne und brüllte eine Parole. Aber sehr spärlich tönte die Antwort. Das missfiel ihm, und er machte sich gleich wieder davon. Im selben Moment ertönte gellendes Weinen. Es war meine Mutter.
»Himmel, bewahre meine arme Schwägerin! Ihr Bestien, ihr sündigen, elenden, ihr seid schlimmer als Tiere!«
Unterlippe gab den Befehl, die Rinder- und Schlangenteufel wieder hinunterzubringen, damit er meine Tante allein auf der Bühne hatte. Der Kontrollposten stand immer noch mit einem Fuß auf ihrem Rücken und machte ein furchtloses Heldengesicht. Seine Pose sah aus wie eine Illustration der damals üblichen Parolen – »den Klassenfeind zu Boden werfen und einen Fuß auf ihn setzen«. Meine Tante bewegte sich nicht mehr. Ich befürchtete, sie sei bereits tot. Das Weinen meiner Mutter war verstummt. Ich hatte Angst, auch sie sei tot.
Die von der Bühne hinuntergetriebenen Rinder- und Schlangenteufel drängten sich um die große Pappel. Ein paar Aufseher bewachten sie mit gezückten Gewehren. Wie die Bösewichte da mit hängenden Köpfen auf dem Boden hockten, sahen sie aus wie eine Tonskulpturengruppe. Huang Qiuya saß mit dem Rücken zur Mauer, den Hinterkopf angelehnt. Man hatte ihr die Haare mit einer Schere auf einer Seite bis zum Scheitel abgeschnitten, es sah grässlich aus. Ich hatte aufgeschnappt, dass meine Tante in der Anfangsphase der Kampagne eine der Gründerinnen des »Henry Norman Bethune Kampftrupps« unseres Krankenhauses gewesen war. Und dass sie sich sehr heißblütig am Kampf beteiligt habe, auch gegen ihren alten Krankenhausdirektor, der sie einmal in
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