Frösche: Roman (German Edition)
Bösewichte sollten als Vorgruppeherhalten. Auf dem Fluss gingen wir über das spiegelglatte Eis, manch einer kam auf selbstgebauten Gleitboards. Mein Lehrer Chen, dem ich wegen der Bevorzugung meiner Person so viel verdanke, marschierte barfuß in kaputten Strohsandalen, über das ganze Gesicht grinsend, seinem bitter dreinblickenden Schulleiter hinterher, der wie er einen spitzen Papierhut trug. Xiao Unterlippe trieb sie mit einem Speer in der Hand vorwärts. Sein Vater war damals gerade Leiter des Kommunerevolutionskomitees und Truppführer der Roten Garden an unserer Schule geworden. Das Paar weiße Warrior-Sportschuhe, das er trug, hatte er meinem Lehrer von den Füßen gestreift. Die Schreckschusspistole, die einen doppelten Knall abgab – sie war Staatseigentum, dennoch baumelte sie jetzt um Xiao Unterlippes Lenden – hätte ich gern gehabt. Was hätte ich darum gegeben! Andauernd zog er sie hervor, feuerte einen Schuss ab, lud Schießpulver nach und feuerte wieder ohrenbetäubend gen Himmel: Bum, bum machte es. Dabei zischte weißer Mündungsqualm in die Höhe und füllte die Luft mit wohlriechendem Salpeter- und Schwefelgeruch.
Als die Kulturrevolution begonnen hatte, wäre ich auch gern den Roten Garden beigetreten. Doch Xiao Unterlippe hatte mich nicht haben wollen. Er hatte gesagt, ich, der Zögling des rechtsabweichlerischen Lehrers Chen sei ein schwarzer Schandfleck. Und mein Großonkel, der mit den Japanern unter einer Decke gesteckt habe, sei ein Verräter gewesen ... Ein falscher Held des Volkes. Meine Tante sei ein Spitzel der Kuomintang, Verlobte eines Landesverräters und die Geliebte von einem, der den kapitalistischen Weg gehe.
Um mich an ihm zu rächen, klaubte ich einen Haufen Hundescheiße auf, wickelte ihn in ein paar Blätter und verbarg den Haufen in meiner Hand. Als ich vor ihm stand, rief ich: »Unterlippe, was ist mit deiner Zunge? Die ist ja ganz schwarz!«
Er tappte in die Falle und sperrte sein Maul auf, während ich ihm mit der Scheiße das Maul stopfte. Dann rannte ich, was ich konnte. Er konnte mich nicht einholen. Außer Lehrer Chen konnte mich keiner an der Schule einholen.
Als ich Unterlippe in den Schuhen meines Lehrers, mit dem Speer und der Schreckschusspistole um die Lenden erblickt hatte – diese Memme, mit den Sachen anderer Leute auftrumpfen und sich wer weiß was drauf einbilden –, spürte ich einen brennenden Hass, mit Eifersucht gepaart: Jetzt würde ich ihn fertigmachen! Ich wusste, dass er eine Wahnsinnsangst vor Schlangen hatte. Wo aber sollte ich eine hernehmen, jetzt um diese Jahreszeit? Also griff ich mir einen gammligen, alten Strick, den ich unter den Maulbeerbäumen am Ufer gefunden hatte, wurschtelte ihn mit den Händen zurecht, verbarg ihn hinter meinem Rücken und näherte mich unbemerkt Unterlippe. Schnell warf ich ihm den Strick um den Hals, wand ihn einmal herum und schrie dabei: »Vorsicht, Giftschlange!«
Er gab einen sonderbaren Schrei von sich, schmiss den scharfen Speer fort und griff sich hastig an den Hals, um sich von der Schlange zu befreien. Als er merkte, dass das, was von ihm herabfiel, nur ein Strick war, kam er wieder zu sich. Zähneknirschend hob er den Speer auf und sagte grollend:
»Kleiner Renner, du Konterrevolutionär! Ich mach dich kalt!«
Dabei zielte er mit dem Speer auf mich und stürzte vor, um mich zu bajonettieren.
Ich rannte.
Er hinter mir her.
Beim Rennen auf dem Eis hatte ich Schwierigkeiten mit meiner Lauftechnik, ich spürte einen bedrohlichen, kalten Windzug im Rücken. Gleich würde der Speer meinen Rücken durchbohren ... Ich wusste, dass dieser fiese Kerl ihn auf dem Schleifrad messerscharf gewetzt hatte, dass sein Herz schwarz wie die Hölle, seine Hand tödlich war. Seit Unterlippe die scharfe Waffe besaß, war seine Mordlust noch gewachsen. Grundlos bohrte er, wo er gerade war, seinen Speer in Bäume, er benutzte aus Hirsestroh gefertigte Puppen in Menschengröße als Zielscheiben. Es war nicht lange her, dass er einen Eber, der dabei war, eine Sau zu belegen, totgestochen hatte. Ich rannte und schaute im Laufen hinter mich, sah seine nach oben abstehenden Haare, seinen starr auf mich gerichteten Blick. Wenn er mich jetzt einholte, würde ich mein Leben aushauchen.
Ich rannte, umrundete Hindernisse, schlüpfte zwischen den Menschentrauben hindurch, rannte wieder, fiel hin, rollte, kroch weiter, fast hätte mich sein böser Speer getroffen. Doch daneben! Der Speer bohrte sich ins Eis. Eissplitter
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